Wie eine Organistin zum Social-Media-Star wurde | ABC-Z

In klassischen Konzerten ist ans Filmen oder Mitschneiden übers Mobiltelefon nicht zu denken, zu groß die Angst vor den wertenden Blicken der Nachbarn oder gar des auf der Bühne stehenden Künstlers. Anne-Sophie Mutter oder Ian Bostridge brechen ein Konzert ab, wenn sie jemanden im Publikum am Handy erwischen.
Nicht so Anna Lapwood. Die 29 Jahre alte Organistin ermutigt ihr Publikum aktiv dazu, ihre Konzerte zu filmen und die Aufnahmen in den sozialen Medien zu veröffentlichen, meistens repostet sie die Clips auf eigenen Kanälen und teilt sie mit ihren mehr als zwei Millionen Fans. Scrollt man durch ihren Instagram-Account, stößt man auf Videos aus der Royal Albert Hall in London, in denen Tausende von Handytaschenlampen leuchten und den Saal in ein Lichtermeer verwandeln, der Moment wurde von Hunderten Nutzern festgehalten und geteilt. So steigert sie, unter Verzicht auf ihre Urheberrechte, per Social-Media-Lawine ihre Reichweite.
Lapwood ist derzeit ein Star der Orgelszene. Die Britin hat vor wenigen Tagen mit zwei Gratiskonzerten im Kölner Dom für kilometerlange Warteschlangen gesorgt, mehr als 13.000 Menschen standen an, um einen Platz in der Kirche zu ergattern. Auch ihr Konzert beim Hamburger Orgelsommer im Mariendom war Monate im Voraus ausverkauft, auf den Emporen drängten sich junge Zuhörer teilweise auf dem Boden.
Von Bonobo entdeckt
Lapwoods Erfolgsgeschichte hat mit harter Arbeit und glücklichen Zufällen zu tun. Als Teenager begann sie nach jahrelangem Unterricht auf der Geige und dem Klavier mit dem Orgelspiel, 2016 wurde sie die erste weibliche Orgelstipendiatin am Magdalen College in Oxford und leitete später zwei Chöre am Pembroke College in Cambridge. Parallel startete sie ihre Karriere als Organistin und beeindruckte bei einer nächtlichen Übesession in der Royal Albert Hall den Musiker Bonobo dermaßen, dass er sie einlud, am nächsten Abend mit ihm aufzutreten. Mit diesem Konzert spielte Lapwood sich in eine neue Sphäre des Ruhms und entdeckte ihre Liebe für Pop- und Filmmusik.
Ihr Entschluss, klassische Musik für andere Zuhörerschichten zu öffnen, hat sich für ihre Karriere ausgezahlt und zugleich ein viel jüngeres Publikum begeistert. Originalwerke und Transkriptionen von Olivier Messiaen und Claude Debussy wechseln sich auf ihren Programmen ab mit den auf der Orgel bombastisch klingenden Soundtracks aus „Interstellar” und „Star Wars“ und sind damit extrem massentauglich; der größte Baustein ihres Erfolgs sind aber wahrscheinlich Lapwoods Kommunikationstalent und ihre bemerkenswerte Freude und Begeisterung für die Musik und ihr Publikum.
In Hamburg scherzte und schäkerte die zarte blonde Musikerin im glitzernden Jackett zwischen den Stücken mit dem Publikum, spielte ein Geburtstagsständchen für einen Fan, den sie kurz vorher kennengelernt hatte – alle sangen mit –, und wurde dafür gefeiert wie ein Popstar. Dass es ihr um mehr geht als die eigene Reichweite, bewies sie am Schluss, als sie statt auf ihren InstagramAccount auf die folgenden Konzerte des Hamburger Orgelsommers hinwies – dass die Zuhörer im Anschluss die Videomitschnitte ihrer Lieblingsstücke auf der Plattform hochladen werden, weiß sie wahrscheinlich sowieso.