Wie eine japanische Stadt gegen die Überalterung kämpft | ABC-Z
Der kleine Lastwagen fährt ein großes Herz durch die Stadt. Auf seiner Seitenwand sind daneben auch ein Hase mit Kinderwagen und ein winkender Hund gedruckt sowie die Aufschrift „Akashi Windel-Express“. Das Bonsai-Nutzfahrzeug sieht aus wie aus einem Anime-Film. Yuko Horikawa öffnet die Schiebetür und schaut auf ihr Tablet. Horikawa, Mitte 40, pinkfarbene Regenjacke, rot gefärbte Haare, nimmt eine Packung Windeln, eine Flasche Badeschaum und Feuchttücher aus dem Wagen, legt alles in einen kleinen Plastikkorb und geht dann zu der Tür des Hauses, vor dem sie geparkt hat.
Sie wird schon erwartet. Die junge Mutter, die mit ihrem elf Monate alten Sohn Haruto auf dem Arm an der Tür erscheint, freut sich sichtlich über den Besuch. Frau Horikawa fragt, wie es der Frau geht, wie es Haruto geht und was sie heute so gemacht haben. Schnell entsteht ein kurzes Gespräch, in dem alle drei viel lachen. Dann übergibt Frau Horikawa der Mutter das Körbchen und nimmt ein leeres wieder mit. „Dann bis nächstes Mal“, ruft sie zum Abschied und geht zurück zu ihrem Lieferwagen. Ihre nächste Kundin wartet schon zwei Häuser weiter.
Niedrigste Geburtenrate aller Industrienationen
Der Service ist für die jungen Familien kostenlos. Windeln, Babynahrung und Pflegeprodukte im Wert von 3000 Yen (umgerechnet 19 Euro) im Monat können sie sich aus einem Katalog aussuchen und an die Haustür liefern lassen, bis das Kind ein Jahr alt ist. Die japanische Stadt Akashi bei Kobe hat den „Windel-Express“ vor vier Jahren eingeführt, um attraktiver für junge Menschen zu werden.
Denn Japan altert rapide. Schon heute sind 30 Prozent der Japaner älter als 65, jeder Zehnte sogar älter als 80. Gleichzeitig sinken die Geburtenzahlen seit Jahren. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2024 wurden in Japan nur noch 350.000 Babys geboren, so wenige wie nie zuvor. Rechnerisch bekommt jede Japanerin nur noch 1,2 Kinder in ihrem Leben. Das ist der niedrigste Wert unter den großen Industrienationen. Doch auch Deutschland ist mit seiner Geburtenrate von 1,35 nicht mehr weit davon entfernt.
Für viele Städte in Japan haben der fehlende Nachwuchs und die Überalterung schon heute ernste Folgen, weil ihre Steuereinnahmen sinken, den Geschäften die Kundschaft fehlt und die Infrastruktur vermodert, weil sie zu wenig genutzt wird. Der Trend könnte sich verschärfen. Die Regierung geht davon aus, dass die Schrumpfung der Gesellschaft sich ab 2030 noch einmal deutlich beschleunigen wird, weil schon dann die Jahrgänge, die in der Regel Kinder bekommen, deutlich kleiner sind.
Auch Akashi ist über viele Jahre immer weiter geschrumpft. Doch vor zwölf Jahren hat der damalige Bürgermeister versucht, das Ruder herumzureißen, und nach und nach immer mehr Förderprogramme für Familien und Kinder aufgesetzt. Neben dem Windel-Express hat die Stadtverwaltung unter anderem die Kindergartengebühren für Familien mit zwei Kindern abgeschafft. Das Mittagessen an weiterführenden Schulen ist gratis, und im Freibad haben Eltern mit Kindern freien Eintritt.
Keine Kinder aus Angst vor Überforderung
Die Mutter von Haruto, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, erzählt, dass sie und ihr Mann vor fünf Jahren aus Kobe nach Akashi gezogen seien, kurz bevor sie ihr erstes Kind bekommen habe. „Damals waren das hier alles noch Reisfelder“, sagt sie und zeigt auf die vielen Neubauten in ihrer Nachbarschaft. „Inzwischen sind viele Familien mit kleinen Kindern hierhergezogen, weil Akashi wirklich eine sehr kinderfreundliche Stadt ist.“ Der Windel-Service reiche zwar nicht für den gesamten Monat. Aber es sei ein sehr freundliches Entgegenkommen der Stadt. Und es sei sehr nett, Besuch von Frau Horikawa oder einer ihrer Kolleginnen zu bekommen. „Mein Mann arbeitet ja den ganzen Tag in Kobe.“
Auch Yuko Horikawa versteht ihren Bringdienst nicht nur als finanzielle Unterstützung der Familien. „Kleine Babys sind zwar sehr süß, aber sie können auch sehr anstrengend sein, und viele junge Mütter fühlen sich einsam und alleingelassen“, sagt Horikawa. Ihnen will sie auch gute Ratschläge und Unterstützung geben. „Bis das Kind ein Jahr alt ist, ist auch das Risiko am höchsten, dass etwas passiert. Deshalb wollen wir in dieser Zeit eng mit den Familien in Kontakt bleiben.“
Für viele junge Japanerinnen sind es nicht so sehr finanzielle Gründe, warum sie keine Kinder bekommen. In Umfragen nennen viele die Angst vor Überforderung als wichtiges Hindernis. Die Arbeitszeiten in den Büros sind oft sehr lang. Dass auch Männer sich in die Hausarbeit und die Betreuung der Kinder einbringen, setzt sich erst langsam durch. Die Väter, die es machen wollen, treffen oft auf wenig Verständnis bei ihren Arbeitgebern. Viele befürchten, dass ein Kind zulasten der Karriere geht.
Die Investitionen der Stadt zahlen sich aus
Die Stadt Akashi hat daher unterschiedliche Fördermaßnahmen entworfen, um junge Familien finanziell zu entlasten und ihnen das Leben zu erleichtern. Drei Milliarden Yen (rund 18,5 Millionen Euro) im Jahr zahlt die Stadt für alle Kinder-Förderprogramme. Die japanische Regierung gibt noch einmal 3,4 Milliarden Yen dazu. „Das alles ist nicht als Hilfe für arme Leute gedacht, sondern als Investition in unsere Zukunft“, sagt Keigo Katsumi stolz. Er leitet das Kinderbüro der Stadt, das im Jahr 2012 eingerichtet wurde und über all die Wohltaten für Familien wacht.
Die Investition zahle sich aus, berichtet Katsumi. Als seine Abteilung vor zwölf Jahren ins Leben gerufen wurde, stoppte das nicht nur den jahrelangen Einwohnerschwund. 16.000 Menschen seien sogar neu nach Akashi gezogen. Die Einwohnerzahl liege nun bei 306.000. Die Steuereinnahmen seien seit der Einführung der Kinderförderung um 5,6 Milliarden Yen (34 Millionen Euro) gestiegen. Besonders stolz ist der Mann mit der Brille und dem kurzen Bürstenhaarschnitt aber auf eine andere Zahl: Die Geburtenrate liegt in Akashi inzwischen bei 1,65 – und damit deutlich über dem landesweiten Wert von 1,2.
Neben den Fördermaßnahmen spielt Akashi allerdings auch in die Hände, dass die Stadt mit dem Zug nur etwa 45 Minuten von der Millionenstadt Kobe entfernt liegt. Mit ihrem hübschen Strand kann sie auch als Pendlerstadt mit Natur für sich werben
Kinderfreundlichkeit zieht Pendler an
Gegenüber dem Bahnhof liegt ein schmuckloses weißes Bürogebäude, das auf den ersten Blick wenig Leben ausstrahlt. Doch in der fünften Etage ist Remmidemmi. Hier hat die Stadt ein Kinderparadies eingerichtet, mit Bücherei, Bastel- und Bandprobestudios. Im Indoorspielplatz „Hare Hare“ – „Schönes Wetter“ – toben an diesem Morgen mehrere Kleinkinder durchs Bällebad und hangeln sich an Kletternetzen entlang. Der Eintritt ist für die Bewohner von Akashi frei.
Der anderthalbjährige Rihito flitzt über eine überdimensionierte Luftmatratze und springt seinem Vater in die Arme. „Er ist ein Junge, er braucht viel Auslauf“, sagt Hiroto Katsukawa. „Es ist super, dass wir hier einfach herkommen können. Meine Frau ist hier fünfmal die Woche.“ Heute sei ausnahmsweise einmal er dran, weil er in der Nachtschicht gearbeitet und nun ja den Tag frei habe, sagt der junge Mann, der mit schwarzer Wuschelfrisur, dunklen Baggy-Hosen und weitem weißen T-Shirt aussieht wie ein Skater.
Er arbeitet in Osaka und pendelt dort jeden Tag zwei Stunden mit dem Auto hin. Das sei zwar lästig, sagt Katsukawa. Aber dass sie zu Rihitos Geburt nach Akashi gezogen sind, sei trotzdem die richtige Entscheidung gewesen, weil die Stadt wirklich sehr viel tue für junge Familien wie seine. „Wenn ich das meinen Kollegen in der Arbeit erzähle, staunen die immer sehr.“
In einer Siedlung sieht es noch aus wie früher
Inzwischen setzt die Unterstützung für Familien in Akashi sogar schon vor der Geburt an: „Sobald eine Frau ein Baby im Bauch hat, braucht sie viel Unterstützung“, sagt Satoko Marutani. Sie ist die heutige Bürgermeisterin von Akashi und hat die Förderprogramme ihres Vorgängers übernommen. Motiviert von den steigenden Steuereinnahmen baut sie diese sogar noch weiter aus.
Auch für werdende Mütter gibt es nun Angebote wie einen kostenlosen Taxi-Service zu Arztterminen. Zudem denkt sie darüber nach, auch für Grundschulkinder das Schulessen kostenlos anzubieten. Das würde 900 Millionen Yen kosten, sagt Marutani, und die Stadt müsse noch einen Weg für die Finanzierung finden. Aber die vergangenen Jahre hätten gezeigt: „Je mehr wir für die Familien tun, desto mehr Steuern nehmen wir ein“, sagt Marutani.
Wie Akashi ohne die Familienförderung aussehen könnte, lässt sich in der Siedlung Meimai Danchi erahnen. Die Tristesse aus gesichtslosen und heruntergekommenen Wohnblocks wurde in den Sechzigerjahren gebaut. Damals lebten fast 40.000 Menschen in den 10.000 Wohnungen; heute sind es nur noch halb so viele. Zwischen den fünfstöckigen Riegelbauten liegen verwahrloste Brachflächen.
Eine verrostete Rutsche zeugt davon, dass auch hier irgendwann einmal Kinder gelebt haben. Doch die sind längst ausgezogen, und nur die Alten sind zurückgeblieben. Die Hälfte der Bewohner von Meimai Danchi ist älter als 65 Jahre. Einige von ihnen sitzen gerade in einem Aufenthaltsraum und basteln Wintergestecke – die ganze Siedlung wirkt wie ein Altersheim.
Auch in Meimai Danchi versucht die Stadtverwaltung neues Leben einzuhauchen. Doch die kleinen einfachen Wohnungen sind für junge Familien nicht attraktiv. Daher wirbt Akashi nun um Studenten der Universität in Kobe. Hauptargument: die günstigen Mieten. Zwei Zimmer, Küche, Bad kosten umgerechnet gerade einmal 100 Euro im Monat. Zudem sollen Veranstaltungen wie ein Curry-Festival und ein Flohmarkt die Gemeinschaft in der Siedlung fördern. Viel Erfolg hatten diese Ideen bislang aber noch nicht. Nur neun Austauschstudenten sind dem Ruf bisher gefolgt.