Wie ein Obdachlosenheim zum Ausstellungsort wird | ABC-Z
Kunst interessiere ihn. Er habe sich immer gern bei Vernissagen dazugestellt. Das Beste angezogen, was er hatte, unter die Menschen gemischt und Bilder angeschaut. So berichtet es ein Bewohner des Hauses St. Martin, einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe.
„Man kann sich Kinobesuche nicht gut leisten“, sagt er. Seit 20 Jahren sei er nicht mehr in einem Konzert oder in der Oper gewesen. Nun ist er immerhin in Hattersheim, in einer Unterkunft, deren Atmosphäre er sehr schätzt. Familiär sei es hier im Haus St. Martin, „in anderen Herbergen ist oft viel Stress“. Und es gibt Kultur, seit genau 20 Jahren.
Konzerte, Lesungen, Ausstellungen, die die Bewohner ebenso besuchen dürfen wie die Anwohner. Große Freude herrscht bei dem Bewohner, der eigentlich aus Hamburg stammt, weil bald eine Ausstellung eines Künstlers eröffnet wird, den er sehr schätzt. „Ich bin Fan von Herrn Rohde, ich hab mich schon öfter auf seine Vernissagen geschmuggelt“, sagt er.
Ausstellungen im Jubiläumsjahr
Das Haus in Hattersheim ist Begegnungsstätte und Galerie, Raum für Lesungen und Konzerte und vor allem ein Haus, in dem man begreift, dass Wohnungslosigkeit etwas ist, das mit etwas Pech jeden treffen kann. Im Jubiläumsjahr hat Leiter Klaus Störch, angestellt beim Caritasverband Main-Taunus, etliche besondere Gäste nach Hattersheim geholt. Am 24. Januar macht Armin Rohde unter dem Titel „Ich seh’ dich auch“ den Aufschlag.
Der bekannte deutsche Schauspieler, der seit seinem 17. Lebensjahr leidenschaftlich gern fotografiert, hat 16 Bilder zur Verfügung gestellt, die bei der Finissage am 7. März von 14 Uhr an zugunsten der Wohnungsnotfallhilfe versteigert werden. Rohde wird dann auch per Video zugeschaltet sein. „Mein gesellschaftliches Engagement beruht auf der Überzeugung, dass Gemeinschaften nur funktionieren, wenn man sich solidarisch verhält, und dass es die sinnvollste Art ist, die eigene Bekanntheit in diesem Sinne zu instrumentalisieren“, sagt Rohde dazu.
Auch lokale Helden wie der Foto-Club Kriftel werden ausgestellt. Oder der Hofheimer Ramin Mohabat, der in Afghanistan als Reporter arbeitete und nach seiner Flucht in Hofheim eine neue Heimat fand. Von 11. Juli an sind seine Bilder aus „Stadt, Land, Fluss“ zu sehen. Dazwischen gibt es Lesungen, kleine Konzerte, ein Sommerfest. „Ohne die ehrenamtliche Leistung der Künstler wäre das gar nicht durchführbar“, sagt Störch.
2005 fand die erste Performance statt
Alles begann im Jahr 2005, Störch hat sogar noch ein Plakat jener allerersten Lesung. „Sprechprobe“ hieß sie, experimentelle Lyrik von Bernd Stickelmann und experimentelle Musik vermischten sich zu einer Performance mit instrumenteller Unterstützung. Etwa 20 Gäste waren gekommen, erinnert sich Störch. Im Anschluss sei es zu einer heftigen Debatte zwischen Wagnerianern und Anti-Wagnerianern gekommen, „das war die Geburtsstunde“, sagt er.
Inzwischen hat er etwa 185 Veranstaltungen hinter sich. Gäste wie Hörbuchsprecher Christian Brückner waren da, Jim Rakete oder der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato. Ein Budget gibt es nicht, für Ruffato ging am Ende der Hut herum – und er bekam mehr, als bei den regulären Terminen seiner Lesereise. Christian Brückner traf Störch im Urlaub auf Föhr.
Kunst soll zu den Menschen kommen
Am Strand sprach er ihn zunächst vorsichtig an. Als sie sich auf dem Feuerwehrfest wieder begegneten, fasste Störch nach etlichen Manhattans den Mut, Brückner nach Hattersheim einzuladen. Und mit ein wenig Hartnäckigkeit gelang der Besuch schließlich auch. Im Jahr 2015 bekam er für seine Arbeit den Bildungspreis der Deutschen Gesellschaft für Fotografie.
„Die Kunst soll zu den Menschen kommen“, findet Störch, denn die Angebote seien oft zu hochschwellig. „Bei unseren Ausstellungen setzen sich die Menschen mit dem, was wir hier an den Wänden haben, auseinander“, sagt er. Etwa bei den Bildern der Wiesbadener Fotografin Andrea Diefenbach und ihrer Serie „Aids in Odessa“, da sei eine Diskussion aufgekommen: Kann man das so zeigen? Will man das so sehen? Oder muss man sogar?
Einer, der die Kehrtwende von der Werbefotografie zu den Themen vollzogen hat, die ihn wirklich beschäftigen, ist der Wiesbadener Fotograf Karsten Thormaehlen. Er arbeitete als Art Director in New York, betreute Shootings mit Größen wie Peter Lindbergh oder Steven Klein, dann kehrte er nach Frankfurt zurück und hatte dort ein Studio, das er während der Pandemie aufgab.
Schon länger war für ihn das Thema Alter präsent – als Zivildienstleistender oder 2015, als er in Cannes den Goldenen Löwen für eine Brustkrebskampagne mit dem Motiv einer Hundertjährigen gewann. Er fuhr seine Werbetätigkeit zurück und verfolgt nun stärker seine eigenen Projekte: Porträts von Hundertjährigen, Seniorensportlern und aktuell „Love is Love“, eine Serie älterer gleichgeschlechtlicher Paare, die ebenfalls aus dem Auftrag für eine Kampagne heraus entstand.
Seine Porträts Hundertjähriger sind momentan noch im Hofheimer Krankenhaus zu sehen. Vom 14. März an werden Motive aus „Love is Love“ im Haus St. Martin ausgestellt. Zur Vernissage werden nicht nur Hattersheimer kommen, sondern auch Bewohner des Hauses – und diesmal ganz ohne das Gefühl, sich heimlich hineinschmuggeln zu müssen.