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Wie die AfD Angsträume und No-Go-Areas erschafft: Ein Interview mit Daniel Mullis | ABC-Z

Herr Mullis, Sie befassen sich mit dem Aufstieg der extremen Rechten. Könnte Alice Weidel in naher Zukunft Kanzlerin werden?

Mit aller Wahrscheinlichkeit nicht bei den nächsten Bundestagswahlen. Aber man weiß nie, was passiert. Die politischen Diskussionen fokussieren sich im Moment viel zu stark auf die Themen, die auch die extreme Rechte bespielt – Mi­gra­tion oder Armut in einer Weise, die Sozialneid schürt. Wir stehen auf sehr brüchigem Terrain.

Wenn Sie von der extremen Rechten sprechen – meinen Sie die gesamte AfD?

Wenn man den Verfassungsschutz als Maßstab nimmt, gibt es starke Indikatoren, dass das so ist. Denken Sie an Björn Höcke oder Maximilian Krah, die beide akzeptiert werden, sowie an die geführten Remigrationsdebatten. Die AfD schürt völkische Ideologien und ist eine rechtsextreme Partei. Es ist aber wichtig, zwischen rechten und extrem rechten Positionen zu unterscheiden. Es gibt demokratisch legitime rechte Positionen, über die man streiten kann. Was die ex­treme Rechte aber tut, und das ist der fundamentale Bruch: Sie erkennt den demokratischen Rahmen, in dem wir über Positionen streiten, nicht mehr an und sehnt eine Transformation herbei, das gilt es immer wieder zu betonen. Aber, dieser demokratische Boden besteht nicht alleine aus parlamentarischen Prozessen, sondern auch in der bedingungslosen Achtung von Menschen- und Grundrechten sowie der Achtung von Justiz und der Unabhängigkeit von Gerichten.

Sie waren Teil eines Autorenkollektivs, das das Buch „Das Ende rechter Räume. Zu Territorialisierungen der radikalen Rechten“ verfasst hat. Was verstehen Sie unter rechter Raumnahme?

Wir haben über drei Jahre intensiv zusammengearbeitet. Die empirische Fülle und der analytische Tiefgang wären ohne diese kollektive Arbeit nicht möglich gewesen. Wir betonen zwei Seiten rechter Raumproduktion. Einerseits handelt es sich um soziale Gefüge, die sich die radikale Rechte über ihre Politik, über Taten und ideologische Strategien selbst erschafft und besetzt. Diese Räume schließen bestimmte Gruppen aus – People of Colour, Juden, Menschen muslimischen Glaubens – und versuchen, eine gewisse Homogenisierung herzustellen. Wenn man sich rechte Ideologie anschaut, sind die Fragen von Raum, Volk und Boden aufs Engste verschränkt. Andererseits sind rechte Räume auch das Ergebnis politischer, medialer und auch wissenschaftlicher Zuschreibung.

Die Karten, die wir nach jeder Wahl sehen, sind ein gutes Beispiel. Sie vermitteln das Bild einer blauen Dominanz in ganz Ostdeutschland, während der Westen als gesichert demokratisch gilt. Dieses Bild hat Bestand, obwohl die AfD auch im Westen deutlich erstarkt und sich viele Menschen im Osten weiter für Demokratie engagieren. Diese Karten zeigen keine absoluten Mehrheiten. Es sind relative Zahlen. Noch problematischer wird es, wenn vermeintliche Gewissheiten über „den Osten“ oder „das Land“ zum erklärenden Faktor werden und wir nicht mehr fragen, was den Osten oder das Land – die es beide so homogen nicht gibt – eigentlich ausmachen. Das Problem beginnt also, wenn man nicht mehr genau hinsieht.

„Die AfD schürt völkische Ideologien“: Daniel MullisPRIF

Wird mit Begriffen wie ‚der braune Osten‘ nicht selbst eine Form von Raumzuschreibung geschaffen?

Sicher, jedoch eine hochproblematische. Das Bild ist, wie David Begrich es beschreibt, in den Klischees „Plattenbauten, Arbeitslose, Neonazis“ gefangen. Selbstverständlich gibt es eine ostdeutsche Komponente bei den starken Zugewinnen der AfD in Ostdeutschland, wie spezifische soziale und historische Erfahrungen oder geteilte kulturelle Prägungen. Aber das Erstarken der extremen Rechten an sich ist kein ostdeutsches Phänomen. Das wird sehr deutlich, wenn wir die Entwicklungen vergleichend betrachten. Dann stellen wir fest, dass die Geschichten, die es zu erzählen gibt über East London, den amerikanischen Rust Belt, das Ruhrgebiet oder deindustrialisierte Stadtteile von Frankfurt am Main, sehr ähnlich den Narrativen sind, die wir in Ostdeutschland hören.

Sie haben jetzt auf städtische Orte fokussiert, wie ist es denn mit der Stadt – Land Polarisierung – eine Kluft, die es zwar gibt, aber vielleicht nicht im allgemein angenommenen Ausmaß?

Kluge Analysen haben darauf hingewiesen, dass es auf dem Land durchaus geteilte Erfahrungen gibt, die sich vom städtischen Kontext unterscheiden. Ländliche Regionen sind in der Regel sozial übersichtlicher: Man kennt sich, die soziale Kontrolle ist höher und man weiß, wer zugezogen und wer alteingesessen ist. Dies kann rechte Tendenzen verstärken. Studien zeigen jedoch auch, dass einerseits ähnliche Erfahrungen auch in Stadtteilen gemacht werden und anderseits, dass diese gesteigerte Nähe das Erstarken der extremen Rechten auch verhindern kann. Sinnvoller, als rechtsextreme Tendenzen über Raumkategorien erfassen zu wollen, das haben wir im Buch stark betont, ist es auf gesellschaftliche Prozesse zu fokussieren. Auf einer allgemeinen Ebene sehen wir nämlich, dass es in Stadt, Land und Ostdeutschland mehr oder weniger dieselben sozialen, politischen und kulturellen Dynamiken sind, die Rechtsextremismus begünstigen: Abstiegserfahrungen, Wut über mangelnde politische Repräsentation, der fehlende Glauben an eine positive Zukunft sowie der Wille das Eigene zu verteidigen, gepaart mit fremdenfeindlichen Vorurteilen. Wir können dann die Frage stellen, warum sich diese sozialen Prozesse räumlich strukturieren, aber der Raum selbst ist nie die Antwort.

Sie betonen immer wieder soziale und kulturelle Prägungen von Orten. Manifestiert sich dies auch in langen Kontinuitäten rechter Raumnahme?

Die AfD ist heute dort erfolgreich, wo schon historisch rechtsextreme Parteien wie die NPD oder Die Republikaner erfolgreich waren. Manche Studien belegen gar räumliche Kontinuitäten bis in die 1930er-Jahre und zum Aufkommen der NSDAP. Wir haben es tatsächlich mit sehr langen sozial-räumlichen Prägungen zu tun. Das betrifft nicht nur Ostdeutschland oder das Land, wir sehen diese Muster selbst auf der Ebene von Stadtteilen. Neben der Kontinuität im Wahlverhalten ist auch die Kontinuität der politischen Mobilisierung zentral. Dort, wo die extreme Rechte in Ostdeutschland heute so erfolgreich ist, ist sie bald zehn Jahre ungebrochen auf der Straße. Diese Kontinuität montäglicher Demonstrationen ist eine wirkmächtige Raumeroberung durch permanente Sichtbarkeit.

Die 2021 gegründete radikal rechte Kleinstpartei Freie Sachsen, deren Führungspersonal aus Neonazis besteht, ist damals eine Mobilisierung gelungen, die der AfD noch heute nutzt, oder?

In den Spitzenzeiten der Proteste zwischen Dezember 2021 und Februar 2022 fanden bundesweit Hunderte solcher Versammlungen gleichzeitig statt. In Ostdeutschland waren diese Proteste von Anfang an von Rechtsaußen vereinnahmt. In Sachsen etwa ist es den „Freien Sachsen“ gelungen, aus verstreuten Aktionen ein kohärentes Wir zu erzeugen. Sie waren sehr erfolgreich darin, die Aktionen in geteilte Erfahrung zu gießen. Man konnte auf dem Telegram-Kanal der Partei live im Netz die sogenannten Spaziergänge verfolgen. Wenn in einem Ort nur dreißig Leute auf die Straße gegangen sind, hatten sie trotzdem das Gefühl, Teil einer großen Bewegung zu sein. Man spürt Hunderttausende von Menschen im Rücken. Die digitale Vernetzung ist längst ein integraler Teil von Raumerfahrungen geworden und damit nicht zu trennen von den Prozessen vor Ort.

Diese sogenannten Spaziergänge haben kontinuierlich neue Themen besetzt.

Es begann mit PEGIDA und den massiven Protesten gegen den Zuzug von Geflüchteten. Diese Mobilisierung hielt letztlich bis zur Pandemie an. Dann folgten Proteste gegen staatliche Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung, und bald kamen Verschwörungsmythen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hinzu. In all diesen Fällen konnten wir deutliche Radikalisierungsprozesse beobachten, bei denen sich die Kritik an der Politik bald mit Forderungen nach einem Systemwechsel paarte. Hier hat das Narrativ der besorgten Bürger vollkommen versagt. Einerseits hat es dazu beigetragen, die Radikalisierung zu übersehen, andererseits ließ es jene allein, die während der Demonstrationen fürchteten, das Haus zu verlassen, weil sie sich nicht mehr geschützt fühlten.

Die AfD setzt bei ihrer Raumeroberung stark auf emotionale Narrative, um das von Ihnen angesprochene Wir-Gefühl zu erzeugen. Wird die emotionale Dimension von anderen Parteien nach wie vor unterschätzt?

Ja. Dabei wissen wir schon lange, dass die extreme Rechte Gefühle und geteilte Erfahrungen geschickt nutzt, um Gemeinschaft zu erzeugen. Dabei spielen positive Gefühle – Stolz zum Beispiel, Selbstermächtigung, Brüderlichkeit, Heimatgefühle – eine zentrale Rolle. Diese Gefühle werden gegen negative Gefühle der Angst und Machtlosigkeit gesetzt. Die extreme Rechte mobilisiert weniger durch eine kohärente Ideologie als vielmehr durch den affektiven Appell an Emotionen. Das Eigene wird affirmativ aufgeladen, das vermeintlich Andere mit Wut und Hass verbunden. Die Lösung für das Wohlbefinden des Eigenen wird dann in der Entfernung des Anderen gesehen. Leider muss man sagen, dass dies nicht nur die extreme Rechte tut. Auch Friedrich Merz bedient sich genau dieser Logik, wenn er ein Problem des Stadtbildes konstatiert, das über gesteigerte Abschiebungen gelöst werden könnte. Mal wieder werden rechte Narrative gestärkt und nicht gestellt. Nach mittlerweile vielen Gesprächen mit Politikern habe ich leider inzwischen das Gefühl mit einer gewissen Beratungsresistenz konfrontiert zu sein. Es wird zwar zugehört, aber am Schluss siegt die Überzeugung: Wir sind die Politiker und wissen es besser.

Welche Rolle spielt Gewalt in den Strategien der radikalen Rechten, Territorien zu besetzen?

Die Zunahme rechter politisch motivierter Straftaten, wobei auch Gewalt zugenommen hat, ist seit 2014 enorm. Angriffe betreffen Politiker im Wahlkampf, Menschen, die von der extremen Rechten als Feinde markiert werden, Linke und Grüne, queere Menschen, Migranten sowie People of Colour. Die Erschaffung von Angsträumen ist ein Teil der Raumnahmestrategie der extremen Rechten. Es ist nicht nur die physische Gewalt, sondern auch die heftigen Angriffe in den sozialen Medien – eine unterschätzte Form zeitgenössischer Gewalt, die verstärkt aktive Frauen trifft –, die Menschen zum Verstummen bringt. Wir müssen dem als Gesellschaft entschlossen entgegentreten.

Zu diesen Räumen gehört für bestimmte Gruppen auch das sächsische Elbsandsteingebirge. Weshalb?

Teile dieses Gebiets nutzten gewaltbereite Neonazi-Kameradschaften für inszenierte Kampfsporttrainings und propagandistische Auftritte. Von Mitgliedern der Dresdner „Werra Elbflorenz“ zeigen wir in unserem Buch „Das Ende rechter Räume“ ein Foto. Darauf steht mehr als ein Dutzend Männer zum Teil mit nacktem Oberkörper auf einer Wiese und lässt sich zur Abhärtung aus zwei Metern Entfernung mit Pfefferspray besprühen. Hier geht es um eine Form von hypermaskuliner, faschistischer Männlichkeit – der männliche Körper als wehrhaftes, fleischgewordenes Ideologem. Kampfbereit bis zum Ende. Sie und ich als weiße Personen können, solange wir uns unauffällig verhalten und nichts sagen, an solchen Gruppen unbehelligt vorbeigehen. People of Colour können das nicht. Gewalt sowie die Inszenierung von Gewalt sind in der rechtsextremen Praxis nie Nebenschauplätze, sie zielen auf spezifische Körper, und dies in letzter Instanz mit einem eliminatorischen Interesse.

Neben der gewaltbereiten Raumeroberung existieren auch andere Formen.

Dort, wo Lücken bei der Demokratieförderung entstehen, wo Jugendzentren geschlossen werden und Begegnungsräume wegfallen, versucht die extreme Rechte, diese Lücken zu schließen und eine rechte Jugendkultur zu fördern. Welches Gewaltpotential entstehen kann, wenn solche Räume als rechte und rechtsradikale Mobilisierungslager genutzt werden, konnte man in den „Baseballschlägerjahren“ in den Neunziger- und Nullerjahren erleben. Wo gespart wird, versucht die extreme Rechte, Boden zu gewinnen, veranstaltet Sommercamps, Wochenendangebote, Ferienreisen. Gelingt die rechte Raumnahme, geht die Einschüchterung weiter. Ich habe mich mit Leuten unterhalten, die in Thüringen aktiv sind, wo es zwar noch Initiativen zur Demokratieförderung gibt, die aber öffentlich oftmals von Rentnern getragen werden, weil sie keine beruflichen Sanktionen und Nachteile befürchten müssen. Ich habe von Leuten gehört, die sich engagiert haben und bei der Jobsuche anschließend massive Probleme bekamen. Die demokratische Zivilgesellschaft ist an den Orten, an denen rechte Landnahme vorangeschritten ist, unter großen Druck geraten. Wir dürfen nicht vergessen, dass es viel, viel schwieriger ist, demokratische Räume wieder aufzubauen, wenn sie erst einmal verloren sind.

Physische Orte sind auch für die Gegenwehr zentral. In Hanau, wo 2020 neun Menschen aus rassistischen Motiven ermordet wurden, mietete die Initiative 19. Februar einen Laden in der Innenstadt. Dort können die Menschen gemeinsam verarbeiten. Ist Hanau ein Beispiel für eine gelungene Rückeroberung?

Bei Hanau hatte man zumindest zu Beginn das Gefühl, dass wir Lehren aus dem NSU gezogen haben. Es gab eine große Bereitschaft, auf die Opferfamilien zu hören und nicht den Täter ins Zentrum zu stellen. Gleichwohl würde ich Hanau nicht nur als Erfolgsgeschichte rahmen. Wenn man heute mit Angehörigen spricht und zuhört, äußern sie eine bittere Enttäuschung darüber, dass es bis heute keine lückenlose Aufklärung gibt. Trotzdem würde ich sagen: Es ist immerhin gelungen, die Stimmen der Angehörigen wurden im öffentlichen Diskurs gehört – was beim NSU komplett gescheitert ist.

Daniel Mullis ist Senior Researcher im Thinktank Rechtsextremismus (TTRex), Assoziierter Wissenschaftler am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF) und Lehrbeauftragter am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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