Wie das 48. Lucas-Filmfestival Kinder und Jugendliche ins Kino bringt | ABC-Z

Das Gefühl der Leere, nachdem der Abspann über die Leinwand gelaufen ist und die letzten Töne der Outromusik verklungen sind, kennt wohl jeder Kinogänger. Gedanklich noch gefangen in jener Welt, die sich aus den flackernden Bildern des Projektors gelöst hat, trottet man aus dem Saal über den von Popcorn und Limonade verklebten Teppichboden. Alles Wirkliche scheint unwirklich in diesen Momenten, weil man seine eigene Realität für eine andere getauscht hatte. Kino ist die Möglichkeit, für eine Weile ein anderes Leben anzuprobieren.
Zum Beispiel in Lots Welt einzutauchen. Der Film „I Shall See“ der niederländischen Regisseurin Mercedes Stalenhoef erzählt von der 17 Jahre alten Taucherin, die durch einen Unfall mit einem Feuerwerkskörper ihr Augenlicht verliert. Der Film kommt mit wenigen Dialogen aus, lebt von eindrücklichen Bildern und den Geräuschen, die in Lots neuem Leben an Wichtigkeit gewonnen haben.
Ohnmacht, Schmerz und Frust über zerbrochene Träume, über die Welt, die ihr entrissen worden ist – all das kann man in Lots Gesicht lesen. Sie muss neuen Sinn in einem Leben finden, das sie nicht als ihres akzeptieren kann. Nur wenn sie träumt, kann sie wieder die Dinge sehen, die ihr in ihrem alten Leben wichtig waren: Das Wasser beim Tauchen, in dem sich das Licht bricht und in dem sich schillernde Fische tummeln, ihren Freund, der in ihrer neuen Realität plötzlich so weit weg zu sein scheint. Für alle um sie herum dreht sich die Welt weiter wie zuvor. An Lot zieht sie vorbei – und mit ihr die anderen. In einem Rehabilitationszentrum für Erblindete erkennt die Schülerin, dass es auf die Fragen, die der Verlust aufwirft, keine richtigen Antworten gibt.
Unterhalten, Bewegen, Herausfordern
„I Shall See“ ist einer von fünf Langfilmen, die beim Lucas-Filmwettbewerb in der Kategorie „Youngsters“ gespielt werden. Die Filme richten sich an junge Erwachsene. Aber wie alle Filme des Festivals sind die Beiträge immer auch für die Altersgruppen darüber mit gedacht.
„,I Shall See‘ ist beispielhaft für das, was uns bei Lucas wichtig ist“, sagt Festivalleiterin Julia Fleißig. Die Filme sollten nicht nur unterhalten, sondern auch bewegen und ihr junges Publikum herausfordern. Einer der Unterschiede, die die Filme für die jüngeren Zuschauer von denen für die älteren trennen, sei das Ende: „In den Kinderfilmen wird eine Lösung für das Problem angeboten, um das sich die Handlung dreht“, erklärt Fleißig. Für die Älteren dürfe das Problem „auch mal ganz ohne Lösung bleiben“. Denkanstöße aber sind bei Lucas garantiert. Und auch die Möglichkeit, im Kino den Schritt hinter die eigene Person zu vollziehen, die alltägliche Distanz aufzugeben, sich fremden Emotionen und Schicksalen hinzugeben.
Zum 48. Mal lädt das Lucas-Filmfestival mit etwa 40 ausgewählten internationalen Kurz- und Langfilmen Kinopublikum von drei Jahren an zu Reisen durch Leben rund um den Globus und durch die Zeit ein. Vom 22. September bis 2. Oktober bietet das Deutsche Filminstitut und Filmmuseum (DFF) ein umfassendes Programm mit Filmvorführungen, darunter etliche Premieren, für alle Altersklassen. Dazu gibt es Workshops, Gespräche mit Filmschaffenden und einen Festivalsonntag für Familien am 28. September bei freiem Eintritt im ganzen Haus. Schulklassen und Gruppen nutzen das Angebot zumeist am Vormittag, sie können im Voraus Workshops buchen, auch pädagogisches Material gibt es zu den Filmen. Einzeltickets kann man ebenfalls buchen.
Die Themen, die in den Filmen behandelt werden, sind völlig verschieden: Sie handeln von Klimawandel, Liebe, Selbstzweifeln oder einem dicken Kater, der sich plötzlich zum großen Entsetzen seiner Besitzerin in einen Goldfisch verwandelt. Die Bildsprachen sind so unterschiedlich wie die jungen Protagonisten, und doch verbindet alle Filme ihr Ziel, nämlich ihr Publikum für einen Moment mit anderen Augen auf die Welt blicken zu lassen.
Mit anderen Augen in die Welt blicken
Das Herz des Lucas-Filmfestivals seien die Wettbewerbe, so Julia Fleißig. In den Alterskategorien „Kids“, „Teens“ und „Youngsters“ werden die besten Lang- und Kurzfilme gleichberechtigt von erwachsenen Fachleuten und Kindern und Jugendlichen in der entsprechenden Altersgruppe ausgezeichnet. Am letzten Abend findet die Preisverleihung im Kino des DFF statt.
Einer der Filme, der die jungen Filmfans vorsichtig an die heiklen Themen des Lebens heranführt, ist der französischsprachige Animationsfilm „Mary Anning“ von Marcel Barelli. Er spielt im südenglischen Lyme Regis des Jahres 1811 und erzählt die Geschichte der zwölf Jahre alten Fossiliensammlerin Mary. Die historische Anning ist als eine der ersten Paläontologinnen bekannt geworden. Das Mädchen in den grünen Röcken – angelehnt an die Darstellung Annings auf dem 1850 entstandenen Porträt des Malers Benjamin John Merifield Donne – hat es nicht leicht. Voll Begeisterung sammelt sie an der englischen Küste Fossilien, wird dafür aber in der Schule gehänselt und streitet mit ihrem Religionslehrer, dessen Überzeugungen nicht mit ihren Funden zusammenzupassen scheinen.
Marjolaine Perreten, Verantwortliche für Produktion und Animation von „Mary Anning“, wird neben vielen anderen Gästen aus der Filmbranche Fragen aus dem Publikum beantworten und Einblick in ihre Arbeit geben. Die Gespräche rund um die Filme, gerade für die Jüngeren, könnten so auch einen sanfteren Übergang bieten, von der Welt des Films zurück in die Realität.





















