Wie aus der Trickkiste der Popgeschichte – So war die Show | ABC-Z

Basel. Deutschland hob sich beim ESC 2025 ab und schaffte trotzdem nur Platz 15. Dabei hatte Raabs Idee für Abor & Tynna großes Potenzial.
Eigentlich hatte Deutschland beim Eurovision Song Contest 2025 so vielversprechende Chancen wie lange nicht. Mit „Baller“ präsentierten Abor & Tynna eine mitreißende Nummer, und Stefan Raab schien seit Lena Meyer-Landruts ESC-Sieg 2010 noch einen Rest Showglanz auf seiner Weste zu tragen. Für ein neues Märchen reichte es dennoch nicht: Deutschland landet auf Platz 15, während Österreich, Israel und Estland das Podium besetzen.
Der Auftritt von Abor & Tynna war das Gegenprogramm zu vielen anderen ESC-Performances: scheinbar improvisierte Tanzeinlagen, schwarze Outfits im Meer der Pailletten, eine wackelige Stimme. Sängerin Tynna und ihre Tanzcrew feierten wie der harte Kern in den späten Stunden einer Berliner WG-Party.
Wo andere auf Perfektion setzten, entschieden sich Raab und das Geschwisterduo für Echtheit. Dafür erhielten sie Standing Ovations. Doch ist Europas größter Musikwettbewerb bereit für diese Art von Authentizität? Mehr dazu: In unserem Newsblog zum Eurovision Song Contest 2025 lesen Sie alle Informationen zur Show und aktuelle Entwicklungen.
Beim ESC 2025 setzen viele auf bewährte Musiktricks
Viele Länder griffen in die Trickkiste der Popgeschichte: Italien schickte mit Lucio Corsi einen Bowie-Verschnitt im Pietro-Look, Griechenland präsentierte mit Klavdia eine junge Nana Mouskouri, Luxemburgs Laura Thorn recycelte France Gall. Dazwischen: viel musikalischer Einheitsbrei, bedeutungslose Texte, Pop-Choreografien von der Stange und Safri-Duo-Gedächtnisbeats.
Sandra Studer, Michelle Hunziker und Hazel Brugger führten durch den Abend.
© dpa | Jens Büttner
Die Halle wirkte stellenweise so inspiriert wie ein Wohnzimmerpublikum nach dem dritten ESC-Getränk. Pyrotechnik und Dampfmaschinen verblassen, wenn TikTok inzwischen die spannendere Dramaturgie liefert. Es gab aber auch Lichtblicke jenseits des Trash-Niveaus: Lettland schickte mit Tautumeitas einen Chor aus Waldfeen, die Schweiz mit Zoë Më eine Sängerin mit enormem Talent. Estlands Tommy Cash brachte mit seiner Espresso-Macchiato-Parodie selbst italienische Kaffee-Puristen aus dem Konzept.
ESC 2025: Österreich sorgt für Standing Ovations, Finnland für Verwirrung
Der Auftritt von JJ alias Johannes Pietsch aus Österreich war musikalisch anspruchsvoll und inszenatorisch eigenwillig: ein wackeliges Segelschiff, ein Nietenmantel, eine Stimme, die die Gesangsausbildung des Countertenors eindeutig offenlegt. Schon vor der Show galt der 24-Jährige mit seinem Titel „Wasted Love“ als Favorit, Standing Ovations bestätigten die Prognosen.
Für das, was die Generation Z als „cringe“ bezeichnet, sorgten dagegen plumpe Sex-Provokationen: Finnlands Erika Vikman schwebte auf einem goldenen Mikroständer durch die Halle und sang „Ich komme“ – eine Mischung aus Rammstein und Varieté. Armeniens Beitrag: ein ölverschmierter, oberkörperfreier Mann auf dem Laufband.
Angesichts solcher Inszenierungen ist es kein Wunder, dass Experten und Expertinnen dem linearen Fernsehen und den Samstagabendshows regelmäßig das Ende voraussagen. Thomas Gottschalk hat sich ins Archiv der Fernsehgeschichte verabschiedet, Stefan Raab nach einem kurzem RTL-Intermezzo und seinem erneuten ESC-Rückschlag ebenfalls. Ob der ESC diesen Weg geht, entscheidet sich daran, ob er künftig mehr sein will als eine Dauerwerbesendung für das Gastland oder ein Lagerfeuer-TV für Nostalgiker.
Die „wahre Gewinnerin des Abends“ hatte keinen ESC-Beitrag
Dass es auch anders geht, zeigte Moderatorin Hazel Brugger. Mit trockenen Pointen, Turnschuhen und Millennial-Zynismus war sie der Gegenentwurf zur Hochglanzmoderation. Auf X, ehemals Twitter, feierten sie einige Nutzer und Nutzerinnen prompt als „wahre Gewinnerin des Abends“. Da dürfte Gottschalk nicht nur auf Bruggers opulent mit Perlen bestickten Blazer neidisch sein.
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2024 gewann Nemo für die Schweiz den ESC.
© dpa | Jens Büttner
Ein Blick auf die letzten Gewinner-Acts macht Hoffnung: Nemo aus der Schweiz trat im Brautkleid mit Pelzmütze auf, Loreen aus Schweden bleibt als zweifache ESC-Siegerin eine Ausnahmeerscheinung – und Österreichs letzter ESC-Sieg mit Conchita Wurst galt schon 2014 als Symbol für Vielfalt und Wandel.
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Der Sieg von JJ zeigt, dass der ESC immer noch ernstzunehmende Musikerinnen und Musiker hervorbringt. Deutschland bleibt diesmal nur Platz 15 und ein erneuter ESC-Kater. Für die kommenden Jahre heißt es: Kreativität neu denken. Immerhin hat „Baller“ gezeigt, dass ein bisschen Authentizität im Glitzerkosmos des ESC für frischen Wind sorgen kann. Oder wie junge Menschen sagen: Realness.