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Widerstand gegen Erdogan: Ohne die Jugend stirbt der Protest | ABC-Z

Nach der Inhaftierung ihres Bürgermeisters ließen die Istanbuler ihre Stadt erbeben. Doch reicht der Kampfeswillen, um Imamoglus Freilassung aus der Haft zu erzwingen? Auf die Jungen kommt es an.

Bis vor drei Wochen war es kein Problem für Emre, wenn es abends bei ihm zuhause an die Tür klopft. Wahrscheinlich Freunde oder ein Nachbar, ganz normal, bis vor drei Wochen. “Wenn ich heute jemanden an meine Wohnungstür klopfen höre, denke ich: Jetzt ist es so weit. Jetzt wird die Polizei mich mitnehmen”, sagt Emre, Student aus Istanbul, geschätzte Anfang 20. Diesen Gedanken, diese “Jetzt holen sie mich ab”-Angst kennt Emre erst, seit er beschlossen hat, nicht hinzunehmen, wie in der Türkei die Demokratie abgeschafft wird. Seit er auf die Straße geht in der Hoffnung, sie so vielleicht zu retten. Vor dem Istanbuler Rathaus protestierte Emre schon mit Hunderttausenden anderen Türkinnen und Türken. In ihrer Wut, in ihrer Sorge um das Schicksal ihres Landes bilden sie Demonstrationszüge von einer Größe, die Istanbul viele Jahre nicht gesehen hat.

Sie wollen ihren Bürgermeister zurück. Ekrem Imamoglu, Chef im Rathaus der 16-Millionen-Metropole, und – noch wichtiger – Präsidentschaftskandidat der größten türkischen Oppositionspartei CHP für die nächste Wahl. Ein direkter Rivale für Recep Tayyip Erdogan. Der erste, der dem türkischen Präsidenten tatsächlich gefährlich werden könnte, sagen viele. Hätte werden können – so muss es vermutlich heißen.

300 Studenten – weggesperrt

Denn am 19. März standen die Sicherheitskräfte plötzlich vor Imamoglus Tür. Seitdem sitzt der Politiker im Isolationsgefängnis Silivri. Dort, wo Erdogan seit jeher politisch unbequeme Menschen wegsperren lässt. Vor allem solche, die ihre Stimme erheben für Menschenrechte, für eine unabhängige Justiz, für Freiheit und Demokratie.

In Silivri wurden in den Folgetagen von Imamoglus Verhaftung auch knapp 300 Studentinnen und Studenten eingesperrt. Manche von ihnen von der Straße weg einkassiert noch während der Proteste. Einige von Emres engen Freunden sitzen im Gefängnis. Kontakt bekommt er nicht zu ihnen, über Anwälte hört er, wie es ihnen geht. “Sie bekommen kaum frische Kleidung, nicht genug zu essen und zu trinken”, sagt der Aktivist, der nur in diesem Text Emre heißen soll. “Ich weiß, dass manche von den Sicherheitskräften missbraucht und gequält werden.”

Seit den Verhaftungen fühlen sich viele der Protestierenden so bedroht, wie Emre sich fühlt. “Ich rechne eigentlich täglich damit, verhaftet zu werden”, sagt Zeynep, neben ihm. Sie sagt das sehr kurz angebunden, nachdem sie zuvor sehr lange darüber gesprochen hat, warum es aus ihrer Sicht keine Alternative gibt zum Widerstand. Trotz der Gefahr.

Zeynep, Emre und weitere junge Türken sind in den fünften Stock eines schmalen Altbaus in Istanbul gekommen. Sie wollen sich mit dem neuen Grünen-Parteichef Felix Banaszak, der für zwei Tage in die Türkei gereist ist, über die aktuelle Bedrohung austauschen. Sie fühlt sich anders an als das, was sie gewohnt waren. Auch anders als das, was Banaszak selbst schon erlebte.

Am Ende im Polizeibus

2016 fand er sich plötzlich in Polizeigewahrsam wieder, nachdem man ihn am Rande einer Queer-Parade festgenommen hatte. Die Demo war grundlos verboten worden, dagegen wollten Aktivisten protestieren. Als ein Tumult entstand, wurde Banaszaks Parteifreund Max Luchs abgeführt. “Da bin ich hinterhergerannt und hab versucht, ihn den Polizisten zu entreißen”, erzählt der Grüne. “Ergebnis war, dass wir beide im Polizeibus saßen.”

Die Aktivisten, die mit ihnen verhaftet wurden, beruhigten damals die beiden Deutschen. Das sei übliche Schikane, sie kämen bald wieder frei. Die Türken hatten recht.

Grünen-Chef Banaszak im Gespräch mit jungen Protestierenden. Sie dürfen zu ihrer Sicherheit nur von hinten zu sehen sein.

Grünen-Chef Banaszak im Gespräch mit jungen Protestierenden. Sie dürfen zu ihrer Sicherheit nur von hinten zu sehen sein.

Dieser Tage hingegen haben Journalisten, Aktivistinnen, Regierungskritiker, die verhaftet werden, keinen Anlass mehr zu der Annahme, dass es mit ein bisschen Einschüchterung in Polizeigewahrsam getan sein wird. Mit der Inhaftierung Ekrem Imamoglus hat das Erdogan-Regime vor den Augen der Welt einen landesweit beliebten Spitzenpolitiker aus dem Verkehr gezogen. “Verdacht auf Korruption” lautet der Vorwurf gegen ihn. Die belastenden Zeugenaussagen sollen anonym gemacht worden sein.

Die Verhaftung erfolgte wenige Tage, bevor die größte türkische Oppositionspartei CHP Imamoglu zu ihrem offiziellen Präsidentschaftskandidaten küren wollte. Zu einem Zeitpunkt, als die Zustimmungswerte für den Bürgermeister, dem so viel Charisma nachgesagt wird, begannen, Erdogan wirklich gefährlich zu werden.

Erdogan muss um Wiederwahl fürchten

Zwar wären die nächsten regulären Wahlen in der Türkei erst in drei Jahren. Aber vor allem die katastrophale Wirtschaftslage der Türkei beschädigt Erdogans Ruf als Garant von Stabilität nachhaltig. So sehr, dass er fürchten müsste, in Konkurrenz zu Imamoglu bis 2028 in den Umfragen in die Chancenlosigkeit abzusacken.

Dann lieber das Problem mit maximal zeitlichem Abstand zum Wahljahr schon jetzt aus dem Weg räumen – so offenbar das Kalkül von Erdogans Machtapparat, der regierenden AKP. Allerdings hat sie dabei das Wahlvolk unterschätzt. Denn Imamoglu war vielen der erste wirkliche Hoffnungsträger einer Opposition, die sich in den Jahren zuvor nie hinter einem Kandidaten hatte vereinen können. Der Istanbuler Bürgermeister ist einer, der sich um alle bemüht. Wo andere Politik für ihre Wählerklientel machen, spricht Imamoglu gezielt auch diejenigen an, die eigentlich eher konservativ und damit Erdogan zugetan wären. “Er ist nun wirklich alles andere als radikal”, sagt Zeynep.

Der Rechtsstaat erodiert schon seit langem in vielen kleinen Schritten in der Türkei. Was Felix Banaszak damals passierte, war nichts Besonderes. Die Gesellschaft gewöhnte sich in den vergangenen Jahrzehnten an einen relativ kalkulierbaren Grad von Willkür und Unrecht. Die Öffentlichkeit, auch die CHP als stärkste Opposition, reagierte stets gemäßigt.

Nun, da es einen der ihren getroffen hat, stellt sich die Partei an die Spitze des Protests. “Die Verhaftung von Herrn Ekrem Imamoglu ist ein Versuch, die Türkei in ein dunkles Regime der Autokratie zu ziehen, unter Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und des Willens der Menschen”, erklärt Imamoglus Stellvertreter bei Banaszaks Besuch im Istanbuler Rathaus.

So harsche Kritik hörte man früher nicht aus der CHP. Und früher gingen auch nicht diejenigen gegen staatliche Willkür auf die Straße, die Erdogans Politik grundsätzlich nahestanden. Das ist nun anders. Auch für viele Konservative aus der AKP-Klientel hat der Präsident den Bogen überspannt. Sie lassen sich tragen von der Ungeduld der Jungen, denn auch ihre Kinder wollen Freiheit und eine echte Chance auf Arbeit und ein gutes Leben.

“Erdogan herrscht, seit wir geboren wurden, wir kennen gar keine Türkei ohne AKP”, sagt Emre. Und nun sieht er seit Jahren, wie die Wirtschaftskraft schwindet und die Preise steigen. “Wir wollen dieser Dystopie entfliehen. Wollen wissen, wie die Türkei nach Erdogan aussehen kann.”

Istanbul hat jetzt seine Mittwochs-Demo

Für Emre, Zeynep und viele andere ist es entscheidend, dass die politische Opposition die Führung des Widerstands übernimmt. Den Studenten fehlt die Erfahrung, sie sind auf die etablierten Strukturen angewiesen, sonst wird der Protest wohl schnell abebben. Aber die Jungen sind für den Widerstand noch wichtiger: Ihre Kraft, ihre Ungeduld werden zum entscheidenden Treiber. Erst mal gilt: Jeden Mittwoch in Istanbul und immer samstags in einer anderen türkischen Großstadt will man auf die Straße gehen, so kündigt es die Opposition an.

Wer wird den längeren Atem haben? Die Demokratiekämpfer auf der Straße oder das Regime? Die Verhaftungen zumindest zeigen Wirkung, nicht nur bei Emre. Zwar sind laut Meldungen 100 der 300 verhafteten Studenten wieder frei, doch zum Protest am Mittwoch kamen nicht mehr Hunderttausende wie anfangs. Über Zehntausend versammelten sich. Für den inhaftierten Imamoglu ist das eine fatale Entwicklung, die in mehreren Gefängnisjahren enden könnte. Mindestens bis zu den nächsten Wahlen. Dann wäre Erdogans Kalkül aufgegangen.

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