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Wenn die Vergangenheit beim Elternwerden hochkommt – Gesellschaft | ABC-Z

Die Schauspielerin Andrea Sawatzki hat der Zeit gerade ein Interview gegeben, das mich gerührt hat, wie mich schon lang kein Interview mehr gerührt hat. Sawatzki, 62, bekannt aus Produktionen wie dem „Tatort“ und Mutter von heute zwei erwachsenen Kindern, sah sich der Mutterrolle demnach anfangs nicht gewachsen. Weil ihr die eigene Kindheit in den Knochen saß. Erst wuchs sie ohne Vater auf und später, als sie mit ihrer Mutter bei diesem oft gewalttätigen Vater lebte, musste sie ihn pflegen, als er an Demenz erkrankte. „Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht lieben kann“, sagt Sawatzki. „Ich wollte meine ungeborenen Kinder vor einer Mutter wie mir bewahren.“ Sätze, wie man sie eigentlich nie liest, wenn Prominente öffentlich sprechen. Geschweige denn prominente Mütter.

Als ihr erstes Kind geboren wurde, hätte sie das Gefühl gehabt, dass etwas mit ihr nicht stimme, ständig habe sie sich in ihrer neuen Rolle beobachtet, sagt Sawatzki. Sie sei dann aber eine sehr glückliche Mutter geworden, und man glaubt es ihr.

Viele Menschen haben keine leichte Kindheit. Bei manchen fällt diese Lebensphase komplett aus, weil leider keiner da ist, der sich erwachsen verhält. Das Leben ist unfair, beginnt unfair, und keiner kann es sich aussuchen, von wem er zu welcher Zeit/Unzeit an welchem Ort/Unort auf die Welt gebracht wird, um sich vielleicht selbst irgendwann fortzupflanzen. Falls man es sich traut.

Wenige reden so ehrlich darüber. Zwar ist die Weltliteratur eine Sammelstelle für schwere Kindheiten, von Jane Eyre über den Distelfink bis Oliver Twist, und auf dem Buchmarkt hat sich in den letzten Jahrzehnten ein regelrechter Elternschaftskanon entwickelt, auch abseits von reinen Ratgebern. Meist Frauen gehen da der Frage nach, ob sie Kinder bekommen sollten (Sheila Heti), wie es ist, welche zu haben (Rachel Cusk) und wie es sich anfühlt, diese Entscheidung auch zu bereuen (Orna Donath). Im Netz verdienen Momfluencerinnen mit dem Entzücken oder dem Schock übers Kinderkriegen viel Geld.

Wenn es aber darum geht, wie Vergangenheit und eigenes seelisches Inventar einen einholen können, wenn man sein Kind im Arm hält, finden sich schon nicht mehr so viele Namen, Hashtags, explizite Vorbilder. In der Alltagssprache heißt es dann nicht selten etwas ratlos, dass mit der Geburt eines Kindes „eigene Themen wieder hochkommen“, dass man sich selbst in seinem Kind wieder erkenne. Um über diese Verallgemeinerungen allein sprachlich hinauszukommen, braucht man schon verdammt gute Freunde. Und überhaupt Zeit für Gespräche und Energie, um sich den ganzen transgenerationalen Absurditäten im Stammbaum zu widmen.

Das Bild des Stammbaums suggeriert eine Ordnung der Dinge, die es in vielen Familien nicht gibt. Andererseits hat es seine Berechtigung,  Familien sind Bäumen gar nicht mal so unähnlich. Manche sind dick und stabil mit ausgeprägten Wurzeln, andere faszinierend zerbrechlich. Darüber, wie es ist, auf einem fast abkrachenden Ast zu sitzen und sich zu trauen, ein Kind großzuziehen, will ich mehr hören, mehr lesen. Ob mit gutem Ausgang wie bei Sawatzki oder ohne Happy End.

In dieser Kolumne schreiben Patrick Bauer und Friederike Zoe Grasshoff im Wechsel über ihren Alltag als Eltern. Alle bisher erschienen Folgen finden Sie hier.

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