Wem transparente Löhne wirklich nutzen | ABC-Z

Die meisten würden es wohl nicht zugeben. Aber wer hat sich nicht schon mal gefragt, was der Kollege eigentlich verdient? Und ob es mehr ist, als auf dem eigenen Gehaltszettel steht?
Auf diese Fragen eine Antwort zu erhalten, wird hierzulande bald einfacher. Zu verdanken haben die Deutschen das der Europäischen Union. Schon 2023 hat sie für ihre Mitgliedstaaten neue Regeln aufgestellt, welche Informationen über die Löhne ein Unternehmen seinen Mitarbeitern schuldet. Oder anders gesagt: Welche Ansprüche auf Auskunft über die Löhne der Kollegen ein Arbeitnehmer hat. Und diese Ansprüche sind beträchtlich, jedenfalls viel weitreichender, als es der deutsche Gesetzgeber bisher vorgesehen hat.
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ – diesen Grundsatz gibt es im Arbeitsrecht schon seit den Fünfzigerjahren. Mit dem 2017 in Kraft getretenen Entgelttransparenzgesetz sollte in Deutschland erreicht werden, dass Verstöße gegen diesen Grundsatz leichter offengelegt werden. Die EU-Richtlinie verschärft diese Regeln nun. „Jedes Unternehmen mit mindestens 100 Mitarbeitern wird künftig einen Bericht veröffentlichen müssen, in dem konkret drinsteht, wie sich die Vergütung bei gleichen und gleichwertigen Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern unterscheidet“, sagt Thomas Köllmann, Fachanwalt für Arbeitsrecht. Künftig müssen Unternehmen schon in Stellenanzeigen ein Gehalt oder eine Gehaltsspanne ausweisen. Die Hürden für eine individuelle Auskunft zum Gehalt werden zudem deutlich herabgesetzt. Zum Beispiel entfällt die bisherige Regel, dass es hierfür mindestens sechs Kollegen des anderen Geschlechts mit einer vergleichbaren Tätigkeit geben muss. Diese Auskunft ist dann nicht mehr wie bisher auf Unternehmen mit mehr als 200 Mitarbeitern begrenzt.
Es geht um Gerechtigkeit
Bis zum 7. Juni 2026 haben die Unternehmen Zeit, sich auf die neuen Vorgaben der EU einzustellen. Aber schon jetzt grübelt eine Kommission des Bundesfamilienministeriums, wie die Richtlinie in nationales Recht überführt werden könnte. Ende des Monats will sie ihre Empfehlungen vorstellen. Dass die zuständige Ministerin Karin Prien die Gruppe der Verantwortlichen als Kommission zur „bürokratiearmen Umsetzung der Entgelttransparenzrichtlinie“ getauft hat, verrät einiges über den zentralen Vorbehalt, den viele gegenüber der neuen Vorgabe aus Brüssel hegen.
Andererseits – was ist ein bisschen Papierkram angesichts des hehren Zieles, das die EU mit ihrer Richtlinie verfolgt?
Im Kern geht es um die Gerechtigkeit. Ein grundlegendes Prinzip von Demokratien, und es wird politisch umso wirkmächtiger, wenn Bürger es verletzt sehen. Ein Blick auf die Zahlen aus den Ländern legt nahe, dass es bei der Bezahlung von Männern und Frauen in Europa ungerecht zugeht. In Deutschland weist das Statistische Bundesamt einen Lohnunterschied von durchschnittlich 16 Prozent aus. Vier Euro und zehn Cent verdienen Frauen in der Stunde demnach weniger als ihre männlichen Kollegen. Diese Lücke wird stetig kleiner. Dazu hat in den vergangenen Jahren vor allem beigetragen, dass Berufe mit hohem Frauenanteil besonders große Lohnzuwächse verzeichneten, etwa in der Pflege und Erziehung. Gleichzeitig gab es in „männertypischen“ Branchen wie der Metallindustrie weniger starke Lohnsteigerungen.
Die Unterschiede in Beruf und Branche erklären zugleich noch immer den größten Anteil der Gehaltsdifferenz zwischen Männern und Frauen. Weitere Faktoren sind etwa, dass Frauen häufiger in Teilzeit arbeiten oder in Jobs mit einem niedrigeren Anforderungsniveau. Rechnet man all diese Faktoren heraus, landet man bei einem „bereinigten Gender-Pay-Gap“ von sechs Prozent oder einem Euro und 52 Cent pro Stunde. Würde in den Daten darüber hinaus berücksichtigt, ob jemand Führungskraft ist oder längere Unterbrechungen in der Karriere hatte, zum Beispiel für die Kinderbetreuung, wäre die Lücke wohl kleiner. Die Zahl ist als Obergrenze zu verstehen, heißt es auch vom Statistischen Bundesamt.
Weniger Ausreißer nach oben
Die neue Richtlinie soll nun helfen, die verbleibende Lücke zu schließen. Es klingt plausibel: Wenn es Frauen leichter gemacht wird zu erfahren, ob sie fair bezahlt werden, ist es auch wahrscheinlicher, dass sie protestieren, nachverhandeln – und sich die Gehälter angleichen.
„Viele Studien deuten darauf hin, dass dieser Effekt tatsächlich eintritt“, sagt die Ökonomin Zoe Cullen von der Harvard Business School. Mit der Auflehnung der Frauen hat das allerdings weniger zu tun. Cullen hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit geschlechtsspezifischen Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt beschäftigt. „Mehr Lohntransparenz sorgt dafür, dass es weniger Ausreißer nach oben gibt“, sagt Cullen. „Für die Arbeitgeber ist die Lohntransparenz eine tolle Sache, denn sie gibt ihnen mehr Verhandlungsmacht.“ Zu einem Mitarbeiter oder Bewerber könnten sie dann sagen: Ich kann dir nicht mehr Geld zahlen, weil es sonst wieder einen Pay Gap in der Belegschaft gäbe – oder ich allen anderen auch mehr zahlen müsste. „Es verschafft Arbeitgebern ein glaubhaftes Instrument, um niedrigere Löhne durchzusetzen.“ In einer Untersuchung konnte Cullen zeigen, dass in US-Bundesstaaten mit Transparenzgesetzen die Löhne um etwa zwei bis drei Prozent fielen.
Trotzdem gibt es auch Arbeitnehmer, die die Transparenz zu nutzen wissen. Nur sind das gerade nicht die Frauen, die dann begründen können, warum sie so viel verdienen müssten wie ihr Kollege in einer vergleichbaren Rolle. Es sind tendenziell Männer, die auf Grundlage der zusätzlichen Informationen mehr Geld fordern, indem sie etwa mit ihren schwierigeren Aufgaben oder ihrer größeren Verantwortung argumentieren. Dass Frauen das Wissen um die Gehälter der Kollegen wenig nutzen, um nachzuverhandeln, könnte dabei sogar eine rationale Entscheidung sein. Studien zeigen, dass Frauen sich damit bei ihren Chefs unbeliebt machen, während Männer durch Forderungen nach mehr Geld keine Nachteile befürchten müssen. So ist denkbar, dass sich der Gender-Pay-Gap durch Gehaltstransparenz in einigen Fällen sogar vergrößert.
Schwierige Frage der Vergleichbarkeit
Auch Oliver Stettes vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft hat Zweifel, ob mehr Lohntransparenz die Einkommenssituation von Frauen tatsächlich verbessert. Besonders Branche und Beruf sowie Arbeitsumfang und längere Unterbrechungen trügen zu den Gehaltsunterschieden bei. „Instrumente wie die Lohntransparenz setzen allerdings nicht an diesen Ursachen an, sondern an einer potentiellen Ungleichbehandlung.“ Sinnvoller wäre es, die strukturellen Gründe in den Blick zu nehmen. „Wenn Frauen etwa mehr Stunden arbeiten, haben sie deutlich bessere Chancen auf eine Führungsposition.“
Befürworter der Lohntransparenz wiederum erkennen schon in den Branchen- und Berufsunterschieden eine Diskriminierung. „Frauentypische Arbeit ist per se unterbewertet“, sagt Uta Zech, die sich als Leiterin der Initiative Equal Pay Day für die Richtlinie ausspricht. Die Frage, was „gleichwertige Arbeit“ sei, müsse neu gedacht werden. „Warum sollte einer Pflegerin nicht der gleiche Lohn zustehen wie einem Elektroingenieur?“ Das Geld allerdings muss auch erwirtschaftet werden. „Ein Totschlagargument“, findet Zech. „Gerechtigkeit lässt sich nicht wirtschaftlich abrechnen.“
Welche Jobs eigentlich miteinander vergleichbar sind, ist eine schwierige Frage. Für die Bewertung sollen Fähigkeiten, Verantwortung, Anstrengung und Arbeitsbedingungen zählen. „Die tatsächliche Leistung eines Beschäftigten ist hingegen kein Kriterium“, sagt Arbeitsrechtler Köllmann. Allerdings könne in einigen Fällen dann argumentiert werden, dass die Tätigkeit eben doch anders sei oder die Verantwortung größer. Dennoch: „Viele Unternehmen werden ihre Vergütungssysteme anpassen müssen“, sagt Köllmann.
Die sind von dieser Aussicht nicht begeistert. „Die Umsetzung der Entgelttransparenzrichtlinie darf nicht zum Bürokratieprojekt werden“, warnt Steffen Kampeter, der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA). Er sorgt sich zudem um die Tarifautonomie. „Wer Tarifverträge anwendet, sorgt bereits heute für faire und transparente Entgelte.“ Weitere Berichtspflichten kämen einem Misstrauensvotum gegenüber der Sozialpartnerschaft gleich. Die Richtlinie sei insgesamt „mangelhaft“, findet er. „Europa sollte den Mut haben, sie kritisch zu überprüfen – oder besser noch: sie aufzuheben.“
Auswirkungen würde die Lohntransparenz potentiell ohnehin eher dort zeigen, wo das Entgelt bisher weniger an objektive Kriterien geknüpft ist. Was dort passiert, hängt vor allem von den Beschäftigten ab. Auch heute haben sie bereits Auskunftsrechte. Gebrauch macht davon kaum jemand.





















