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Weitreichende ATACMS-Raketen: “Die USA nehmen Putins Drohungen sehr ernst” | ABC-Z

Die USA erlauben den ukrainischen Truppen, US-Raketen auf russischem Boden einzusetzen. Könnte das nun den Unterschied machen? Oberst Reisner glaubt nicht an eine Freigabe für Angriffe tief in Russland. Denn Joe Biden hat schon öfter gezeigt, dass er Putins Drohungen ernst nimmt.

ntv.de: Herr Reisner, kurz vor Ende seiner Amtszeit erlaubt Joe Biden nun die weitreichende Nutzung von ATACMS-Raketen. Um welchen Typ geht es dabei?

Markus Reisner: ATACMS gibt es mit Blick auf die Reichweite in einer Bandbreite von 165 bis 300 Kilometer. US-Medien schreiben, es gehe bei der Freigabe vorrangig um den Raum Kursk. Daher vermute ich, dass die Erlaubnis, ATACMS mit ihrer maximalen Reichweite einzusetzen, sich auf die schwächeren Raketen und auf den ukrainischen Vorstoß südlich von Kursk beschränken wird. Mit den ATACMS können die Ukrainer die Russen in der Bereitstellung zusätzlicher Kräfte behindern. Und zwar so stark, dass es weder Moskaus Truppen noch den zusätzlichen Kräften aus Nordkorea gelingt, den Vorstoß der Ukrainer auf russisches Gebiet zur Gänze zu unterbinden oder einzudrücken. Dann hätte die Ukraine die Möglichkeit, bei etwaigen Verhandlungen etwas auf den Tisch zu legen: Wir ziehen uns aus Kursk zurück, dafür verlangen wir aber auch etwas.

Markus Reisner ist Oberst im Österreichischen Bundesheer und ein renommierter Experte für den Ukrainekrieg. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Front.

(Foto: privat)

Wie sähe solch ein ATACMS-Einsatz konkret auf dem Gefechtsfeld aus? Wie viele Raketen sind notwendig, um einen messbaren Effekt zu erzielen?

Die russische Armee arbeitet mit mobilen Manövergruppen oder auch Korps mit bis zu 30.000 bis 50.000 Mann Stärke. Die Gruppierung in Kursk wurde gerade nochmals signifikant verstärkt, man nimmt derzeit an, dass dort bis zu 60.000 Russen im Einsatz sind. Hinzu kommen 12.000 Nordkoreaner. Mit diesen Kräften gelingt es Russland zunehmend, die ukrainischen Kräfte zurückzudrängen – wenn auch bei schweren eigenen Verlusten. Das gilt es zu verzögern – etwa mit weitreichender Artillerie, mit Raketen, die von Kampfjets abgefeuert werden oder mit Boden-Boden-Raketen wie den ATACMS.

Wenn dazu auch andere Waffentypen genutzt werden können, braucht man ATACMS unbedingt?

Die russische Seite ist immer besser in der Lage, das elektromagnetische Feld zu beherrschen. Das heißt, sie stören westliche Waffensysteme und bringen sie zum Absturz. Bei einigen West-Waffen ist die Trefferquote enorm gesunken. Das ist verheerend, denn ihre Wirkung nimmt rapide ab. Für den Einsatz der ATACMS ist das ein relevanter Punkt, denn die älteren Modelle, und um die geht es meiner Ansicht nach, fliegen vor allem mit Kreiselsteuerung.

Anstelle von GPS?

Genau. Die modernere Version nutzt GPS, aber die älteren nicht und damit sind sie für russische Störmaßnahmen weniger anfällig. Das ist ein wichtiger Faktor für den Erfolg des Einsatzes. Wenn wir auf die gegnerischen Truppen schauen: Anders als zu Beginn des Krieges haben die Russen ihre Truppen jetzt stärker aufgelockert und dezentral positioniert. Das macht es schwieriger, eine massive Wirkung zu erzielen und erhöht den Bedarf an Raketen. Die älteren Modelle haben einen weiteren Vorteil, sie tragen einen Sprengkopf mit Clustermunition, die weit streut. Dadurch lässt sich ein Flächeneffekt erzielen. Damit eine tatsächliche Wirkung erreicht wird, muss der Effekt saturierend sein. Das heißt: Um ihn zu erzielen, müsste man über mehrere Wochen fast täglich diese Angriffe durchführen. Wenn dann eine deutliche Abnutzung der russischen Truppen erkennbar ist, wenn also zum Beispiel deren Angriffe zurückgehen, dann erst kann man den Grad des Erfolges messen.

Manche Experten gehen davon aus, dass Bidens Erlaubnis auch die modernen, 300 Kilometer weit reichenden ATACMS mit einschließt. Sie bezweifeln das?

Das ist durchaus möglich. Vor allem für den Raum Kursk. Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass die USA die Zügel nun völlig loslassen. Das würde deutlich der Politik widersprechen, die das Weiße Haus bislang gefahren hat. Würde man nun weitreichende Systeme über ganz Russland verteilt einsetzen, wäre das eine massive Eskalation. Der russische Präsident Putin hat im September erklärt, dass für sein Verständnis beim Einsatz dieser Waffen in der Tiefe Russlands eine eindeutige Beteiligung von NATO-Staaten notwendig ist. Denn der Ukraine fehlen spezialisierte Techniker, um die ATACMS zu programmieren. Putin kündigt für diesen Fall Konsequenzen an. Niemand womöglich außer Putin selbst weiß, was das konkret bedeuten würde. Aber die USA nehmen solche Drohungen ernst. Das wurde schon im Herbst 2022 deutlich, als russische Truppen bei Cherson eingekesselt waren.

Damals hatten die Russen den Dnipro überquert. Dann zerstörten die Ukrainer alle Brücken über den Fluss, nahmen die provisorischen Übergänge unter Dauerfeuer und schnitten die russischen Truppen so von ihrer Versorgung ab.

35.000 russische Soldaten standen dort, ohne Nachschub und quasi eingeschlossen zwischen der ukrainischen Armee und dem Fluss. Das wäre genau der Coup gewesen, den die Ukraine gebraucht hätte in jenen Tagen. Er kam aber nicht. Man ließ die Russen abziehen, ohne dass ein Schuss fiel. Warum? Weil der amerikanische Geheimdienst Erkenntnisse – vornehmlich aus abgehörter Funkkommunikation – hatte, dass die reale Gefahr eines Atomschlags bestand. Auf taktischer Führungsebene der Russen wurde das konkret diskutiert. Laut Einschätzung der US-Nachrichtendienste damals standen die Chancen 50 zu 50, dass Russland Nuklearwaffen einsetzen würde.

Die Ukraine hat damals auf einen großen militärischen Erfolg an der Front verzichtet, um zu verhindern, dass ein in die Ecke gedrängter Putin eventuell zur Atomwaffe greift. Kann man das so sagen?

Genau so war es. Es wurden damals hektisch Telefonate geführt. Der US-Geheimdienstchef sprach mit seinem russischen Counterpart. Der US-Generalstabschef sprach mit seinem russischen Counterpart. Der US-Verteidigungsminister hat seinem russischen Counterpart klargemacht: Wir wissen, was ihr vorhabt, und wir raten euch davon ab. Er hat damit gedroht, dass beim Einsatz russischer Atomwaffen die USA alle Zügel loslassen würden, auf der konventionellen Ebene. Diese Drohung hat offensichtlich gewirkt. Die unausgesprochenen roten Linien bestehen also. Man hat bislang nie alle Zügel losgelassen.

Stattdessen gab es eine Mischung aus Drohung und Angebot?

Und zusätzlich auch noch Einflussnahme über China und Indien, die dann signalisierten, dass sie einen Atomschlag auch nicht dulden würden. Diese Vorgänge im Herbst 2022 sind gut dokumentiert und lassen sich inzwischen eins zu eins in mehreren Büchern nachlesen. Wesentliche Regierungen in Europa sind von den USA damals darüber in Kenntnis gesetzt worden, welche Gefahr lauerte. Vor kurzem schrieb eine britische Zeitung, die damalige Premierministerin Liz Truss habe in jenen Tagen stundenlang Wetterberichte studiert, um zu sehen, ob es im Falle einer Atomexplosion zu einem nuklearen Fallout gekommen wäre über Großbritannien. Bundeskanzler Scholz muss davon auch gewusst haben.

Entsprach die Situation in Cherson der russischen Nukleardoktrin?

Russland ist sehr exakt in seiner Atomdoktrin. Es werden mehrere Kriterien genannt, die den Einsatz von Nuklearwaffen nach sich ziehen könnten. An dritter Stelle steht eine drohende katastrophale Niederlage der russischen Armee. Das wäre laut Doktrin Anlass für einen Atomschlag, und das war damals in Cherson der Fall, das Kriterium war erfüllt.

Aber wenn man aus dieser Perspektive auf Kursk schaut, dann erfüllt der ukrainische Einfall auf russischem Gebiet doch erst recht eines der Nuklear-Kriterien des Kreml. Warum ist das jetzt offenbar kein Thema? Keine Eskalation von russischer Seite?

Wir sehen, dass die Russen Kursk für ihre Propaganda nutzen. Wenn sie in die russischen sozialen Netzwerke sehen, dann finden Sie dort zum Beispiel ein Bild aus dem Jahr 1943, das einen brennenden deutschen Kampfpanzer “Tiger” zeigt, der in einer Schlacht bei Kursk damals abgeschossen wurde. Daneben steht das Foto eines brennenden Leopard A5 der schwedischen Version, der im Jahr 2024 ebenfalls im Raum Kursk abgeschossen wurde. Darunter steht: “Sie haben es immer noch nicht verstanden.” Der russischen Bevölkerung wird hier suggeriert, dass nicht Russland gegen die Ukraine kämpft, sondern der Westen gegen Russland. Das ist das Narrativ des Kreml: Russland soll vernichtet werden. Kursk ist dafür sein bestes Beispiel: Hier treten die Ukrainer mit westlichen Waffensystemen auf russisches Territorium über und versuchen, es in Besitz zu nehmen. Das passt perfekt in dieses Narrativ hinein. Darum verfängt die russische Propaganda in weiten Teilen der Bevölkerung.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

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