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Könnten Wölfe sie sichern: Die bedrohte Sumpfschildkröte | ABC-Z

Wenn im Herbst die Temperaturen sanken und ihre Leibspeise knapp wurde, kleine Schnecken und Krebse, ­Larven von Insekten, Kaulquappen, tote ­Fische und anderes Aas, suchte Oma sich eine kuschelige Unterkunft für den ­Winter. Für Menschen wäre ein Bett im Schlamm eines flachen Gewässers nicht sonderlich attraktiv.

Da Oma aber eine ­alte Sumpfschildkröte war, die seit vielen Jahrzehnten in der Gemeinde Feldberger Seenlandschaft im Osten Mecklenburgs in der Nähe der Ortsteile Lichtenberg und Wrechen lebte, fühlte sie sich im Schlamm wohl. Immer tiefer sank ihre Körpertemperatur, der Organismus lief auf Sparflamme und verbrauchte nur noch minimale Mengen Energie und Sauerstoff. So überstand die alte Dame an die 100 Winter, die in ihrer Heimat manchmal Temperaturen weit unter minus zehn Grad brachten, die wochenlang anhielten und einen Teil des Wassers über ihrem Schlammbett zu Eis erstarren ließen.

Oma war unmittelbar vom Aussterben bedroht

Schmolz der weiße Panzer in der Aprilwärme, krabbelte Oma aus ihrem Winterquartier und brachte ihren Organismus durch ein wärmendes Sonnenbad auf einem Ast auf Betriebstemperatur. Bis sie im Jahr 2003 im Auftrag des staatlichen Amtes für Landwirtschaft und Umwelt des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte jäh aus ihrem Alltag gerissen wurde: „Oma war anscheinend die letzte Europäische Sumpfschildkröte der ehemaligen Population im Feldberger Umland“, sagt Mathias Kliemt vom Umweltservice- und Planungsbüro Ortlieb in Rostock, Vorpommern und Berlin. Der engagierte ­Natur- und Artenschützer leitet gemeinsam mit Markus Tschakert von der Gewässerbiologischen Station Kratzeburg ehrenamtlich die Wiederansiedlung dieser Panzerträger in Mecklenburg.

„Die Schildkröte gehörte zur Oder-Population, die sonst nur noch in Brandenburg und im Westen Polens vorkommt und unmittelbar vom Aussterben bedroht war“, schildert Mathias Kliemt die dramatische Situation in dieser Zeit. Ein Aussterben aber wäre fatal, weil diese Schildkröten-Unterart hervorragend an die auch im Klimawandel immer wieder einmal strengen Winter im Nordosten Deutschlands angepasst ist. Die Europäische Sumpfschildkröte wäre für immer aus dem Nordosten Deutschlands verschwunden.

Es schien nur eine Frage der Zeit, bis die einzige Schildkrötenart Mitteleuropas in Deutschland aussterben würde. Eine ­Bestandsaufnahme fand in den Neunzigerjahren gerade noch fünf kleine Gebiete in Brandenburg, in denen insgesamt ungefähr 60 bis 65 Schildkröten lebten. Alle diese Tiere waren alt. Dazu kamen zwar noch einige Europäische Sumpfschildkröten in anderen Bundesländern, die aber alle aus südlichen Ländern wie Spanien oder Bulgarien stammten und hierzulande ­offensichtlich ausgesetzt worden waren.

Ideale Brutplätze in Äcker umgewandelt

In diese Situation geriet die Art wohl auch deshalb, weil sie Eier in eine selbst gegrabene Bruthöhle legt, deren Temperatur über das Geschlecht des Nachwuchses entscheidet: Liegen die Temperaturen tagsüber im Gelege in den zwei oder drei Wochen in der Mitte der Entwicklung der Eier über 28,5 Grad, schlüpfen nur Weibchen. Bleibt das Gelege kühler, entwickeln sich Männchen. In der Uckermark und im Südosten Mecklenburgs aber werden so hohe Temperaturen nur bei ganztägigem Sonnenschein erreicht. „Genau an solchen Stellen graben die Weibchen im Nordosten Deutschlands die Höhlen für ihre Eier“, sagt Norbert Schneeweiß, der das Artenkompetenzzentrum Rhinluch im Norden Brandenburgs leitet. In der hügeligen Landschaft, die von der letzten Eiszeit in der Uckermark und auch im Südosten Mecklenburgs hinterlassen wurden, gab es früher einige solcher Südhänge. In den Niederungen zwischen den Hügeln gab es Sümpfe, in denen die Schildkröten ganz in der Nähe ihrer Brutplätze lebten.

„Nach dem Zweiten Weltkrieg aber wurden etliche dieser vorher nur als Wiesen genutzten Südhänge in Äcker umgewandelt“, sagt Schneeweiß. Bevor dort die Schildkröten schlüpfen konnten, wurde der Boden umgepflügt, und die Bruthöhlen wurden zerstört. War der Untergrund zu schlecht für die Landwirtschaft, wurden solche Hänge aufgeforstet. Auch dort hatten die Gelege im Schatten der Bäume mangels Sonne keine Chance mehr. Oma in Mecklenburg hatte zwar Glück, ihr Brutquartier blieb erhalten. Nur lebte die alte Dame dort ohne Kontakt zu Art­genossen und legte daher nur noch unbefruchtete Eier.

Das Team brütete die Eier künstlich aus

Norbert Schneeweiß und sein fast nur aus Freiwilligen bestehendes Team begannen in den Neunzigerjahren mit Schutzmaßnahmen. So holten sie einige der ­befruchteten Reptilien-Eier aus den Bruthöhlen und brüteten sie künstlich aus. Dazu kam die eine oder andere vereinsamte Methusalem-Schildkröte, die in Brandenburg die Stellung hielt. Und 2003 landete auch Oma in dieser Zuchtstation, die dort tatsächlich noch drei oder vier befruchtete Eier legte. Damit war das Artenkompetenzzentrum Rhinluch der besonderen Verantwortung des Landes Brandenburg gerecht geworden und hatte die kälteresistente Population gerettet.

Längst werden die kleinen Tiere in verschiedenen Gebieten in der Uckermark und an einer Stelle in Mecklenburg wieder in die Natur entlassen. In diesen Gebieten können sie leben und ihren Nachwuchs ­bekommen. Dort erhalten Landwirte Ausgleichszahlungen, mit deren Hilfe sie Äcker an Südhängen wieder in weniger rentable Wiesen zurückverwandeln. Und die Urzeittiere, die seit 300 Millionen Jahren ihren Körperbau nicht grundlegend ge­ändert haben, nutzen ihre Chance.

Ganz in der Nähe von Omas alter Heimat hat der Mecklenburger Artenschutz zwischen 2008 und 2022 in einem Naturschutzgebiet an der Grenze der Gemeinden Feldberger Seenlandschaft und der Kleinstadt Woldegk insgesamt 117 nachgezüchtete Jung-Sumpfschildkröten der Oder-Population ausgesetzt. Seit 2018 graben die Reptilien dort von Mitte Mai bis Ende Juni eine zehn Zentimeter tiefe Höhle, um dort ihre Eier zu legen.

Gegen den Waschbär können sich die Reptilien kaum wehren

Wenn im September die Winzlinge von der Größe einer Zwei-Euro-Münze schlüpfen, fänden sie draußen viel zu wenig Nahrung. Also bleiben sie in der Bruthöhle und ernähren sich aus einem Dottersack, der noch an ihnen hängt. „Als bei einer Frostperiode am Anfang der 2020er-Jahre eine Woche lang Tiefsttemperaturen von minus zehn und minus zwölf Grad gemessen wurden, bekamen die Kleinen zwar Frost ab, überlebten das aber“, sagt Mathias Kliemt.

Die Europäischen Sumpfschildkröten waren dem Aussterben gerade noch entronnen – bis mit den aus Nordamerika stammenden Waschbären eine neue Gefahr auftauchte, gegen die sich die Reptilien aus eigener Kraft kaum wehren können. Denn diese Eindringlinge suchen in den gleichen flachen Gewässern nach Fressbarem. Dazu zählen auch die Reptilien, denen sie mit ihren geschickten Krallen Körperteile wie Füße oder Schwanz aus dem Panzer ziehen und zubeißen. Bereits 2010 tauchten im Mecklenburger Schutzgebiet erste Schildkröten mit solchen Bisswunden oder gar abgebissenen Glied­maßen auf. Auch getötete Reptilien wurden gefunden. Es wurden Fallen aufgestellt, in denen Waschbären lebend gefangen werden. Nur müssen diese Geräte täglich kontrolliert werden.

Wölfe haben Appetit auf Waschbären

Daher wird das Gebiet mit einem 40 Zentimeter tief in den Boden eingelassenen Elektrozaun geschützt, der einen Meter hoch ist und von Solarpaneelen mit Strom versorgt wird. Den Zaun muss man nur einmal in der Woche kontrollieren, ob vielleicht eine Windbö Äste abgerissen und den Zaun beschädigt hat. Manchmal entdecken die Ehrenamtlichen auch technische Defekte. Oder Stellen, an denen brünftige Damhirsche den Zaun durchbrochen haben. Weil sich dieser Wild-Vandalismus wiederholt, musste der Zaun schon auf zwei Meter erhöht werden. „Diese ­extrem teure Maßnahme lohnt sich aber nicht nur für den Schutz der Sumpfschildkröten, sondern auch für andere Tiere wie Kraniche, Rothalstaucher und verschiedene Amphibien, deren Nachwuchs ebenfalls von Waschbären gefressen wird“, sagt Mathias Kliemt.

Auf Dauer aber scheinen solche Kosten kaum finanzierbar. Norbert Schneeweiß setzt daher eher auf ein natürliches Gleichgewicht und stützt diese Hoffnung auf zwei Beobachtungen: In den Mägen vieler der rund 300.000 Waschbären, die jedes Jahr in Deutschland gejagt werden, liegen Maiskörner, die vor allem im Winter wohl aus Lockfütterungen der Jagd stammen. Obendrein hat sich die invasive Art erst seit den Neunzigerjahren stark ausgebreitet, während gleichzeitig viel mehr Mais angebaut wurde als früher, um ihn an Vieh zu verfüttern oder daraus Biogas zu machen. „In naturnahen Landschaften wie zum Beispiel aufgelassenen Truppenübungsplätzen fehlt nicht nur die Landwirtschaft und damit auch der Mais, es scheint auch deutlich weniger Wasch­bären zu geben“, sagt Norbert Schneeweiß.

Dort könnten auch Wölfe eine wichtige Rolle spielen: Sie leben nicht nur gern in solchen Naturlandschaften, sondern ­haben durchaus auch Appetit auf Waschbären. Und so dürften dort auch Sumpfschildkröten eine bessere Chance auf eine gute Zukunft haben.

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