Wehrdienst: Wie wird die Bundeswehr wehrhaft? | ABC-Z

In den Koalitionsverhandlungen ringen Union und SPD um eine Wehrform, mit der sie die Streitkräfte effizienter machen möchten. CDU und CSU wollen zurück zur klassischen Wehrpflicht, die Sozialdemokraten präferieren das schwedische Modell, das deutlich stärker auf Freiwilligkeit als auf Zwang setzt. Sieben Expertinnen und Experten sprechen über die Konzepte, die sie am meisten überzeugen.
Wolfgang Richter
Der Oberst a. D. und sicherheitspolitische Publizist argumentiert für ein Modell, das auch dem geschäftsführenden Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) vorschwebt.
Ein allgemeiner Wehrdienst, wie er bis 2011 galt, kann derzeit nicht rasch wiedereingeführt werden. Es fehlen die Wehrerfassung und die Musterungsbehörden der Bundeswehrverwaltung, das militärische Personal und das Material für die Ausbildung eines größeren Umfangs von Rekruten, sowie die Infrastruktur für Unterkünfte und Ausbildungsstätten, die nach 2011 an zivile Träger verkauft wurden. Dies wiederherzustellen, verlangt einen hohen finanziellen und personellen Aufwand und viel Zeit. Die aktuellen Bestrebungen, die Kampfkraft der Bundeswehr kurzfristig zu stärken, würden sogar beschädigt werden. Zugleich scheint die verfassungskonforme Beschränkung der Dienstpflicht auf Männer gesellschaftspolitisch nicht mehr akzeptabel zu sein. Doch dürfte die Einführung einer generellen Dienstpflicht wegen der notwendigen Grundgesetzänderung ebenfalls auf politische Widerstände stoßen.
Somit müssen Zwischenmodelle gesucht werden. Schon heute dienen knapp 12.000 freiwillige Wehrdienstleistende bis zu 23 Monate in der Bundeswehr. Ihre Zahl stagniert. Um sie zu erhöhen, könnten zunächst die Wehrerfassung und eine verpflichtende medizinische Musterung wieder eingeführt werden, und den jungen Menschen dabei das Angebot gemacht werden, einen freiwilligen Wehrdienst abzuleisten. Ziel wäre es, zunächst nur Kontingente von 10.000 bis 15.000 einzuberufen, die in den aktiven Verbänden ausgebildet und untergebracht werden können. Dies würde einen allmählichen Aufwuchs ermöglichen, der sich allerdings über Jahre hinstrecken würde.
Die Wehrpflichtdebatte sollte nicht davon ablenken, dass die Bundeswehr dringend eine Reform an Haupt und Gliedern braucht. Schlankere und effiziente Strukturen müssen die Vielzahl an redundanten Kommandobehörden und Ämtern ablösen; die überalterte Armee der “vielen Häuptlinge” muss zugunsten der Stärkung der Kampfkraft in den Verbänden verjüngt werden; die verkrustete Beschaffungsbürokratie muss mit dem Ziel durchgeforstet werden, die Beschaffung der benötigten Ausrüstung und Waffensysteme zu beschleunigen.
Wilfried von Bredow
Der emeritierte Professor für Politikwissenschaft in Marburg und
Autor mehrerer Sachbücher über die Bundeswehr und Kriege warnt vor der Wiedereinführung der klassischen Wehrpflicht.
Die Bundeswehr hat wegen fehlenden Personals beträchtliche
Probleme, ihren Verteidigungsauftrag angemessen zu erfüllen. Schlimmer noch –
es fehlt kompetent ausgebildetes Personal beim Bevölkerungsschutz und anderen
Einrichtungen, die die zivile und militärische Infrastruktur gegen Angriffe
aller Art auf unser Land abschirmen können. Deshalb braucht es vermehrt Initiativen und Institutionen
zur Milderung dieser Personalnöte. Die Debatte darüber sollte aber nüchtern und
pragmatisch geführt werden: Wie viel
Personal wird wofür gebraucht? Wie kann die Bundeswehr welchen Sicherheitsgefährdungen begegnen? Wie kann die Rekrutierung junger Soldatinnen und Soldaten verbessert werden? Beispiele anderer Länder können dabei Anregungen liefern.
Die Vorstellung, mithilfe von Zwangsdiensten Abhilfe zu schaffen, ist jedenfalls naiv. Genauso wie alle Ideen, eine Wehrpflicht nach dem
Muster der Jahre 1955 bis 2011 wieder einzuführen. Ihre Aussetzung durch
Verteidigungsminister Karl-Theodor von Guttenberg war 2011 eine sinnvolle Entscheidung (auch
wenn er das heute anscheinend anders sieht).
Überlegungen, flächendeckend junge Menschen mit dem
Ziel zu erfassen, die Rekrutierung von Nachwuchs für militärische und zivile
Sicherheitsaufgaben anzustoßen, sind zu begrüßen. Das wird den Gewinn von
Nachwuchs erleichtern. Aber das Grundprinzip der Freiwilligkeit sollte nicht
aufgegeben werden.
Kerry Hoppe
Die Studentin der Rechtswissenschaften in München und Offizierin der Reserve plädiert für eine stärkere Reserve.
In einer Frage wird man nicht um eine Pflicht herumkommen: bei der Erfassung der Wehrfähigen. Mit Aussetzung der Wehrpflicht und der darauffolgenden Schließung der Kreiswehrersatzämter wurde in den vergangenen Jahren ein gewaltiges Wissensdefizit aufgebaut – wer im Ernstfall überhaupt wehrfähig wäre, ist aktuell eine große Unbekannte. Die Erfassung durch einen verpflichtenden Musterungsbogen, wie ihn das schwedische Modell ebenso wie der neue Wehrdienst des Verteidigungsministers vorsieht, ist meines Erachtens unumgänglich.
Komplizierter wird es bei der Aufwuchs- und Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr. Voraussetzung dafür ist ein großer Pool an militärisch ausgebildetem Personal, der im Ernstfall die aktiven Soldaten ergänzt. Drei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs haben wir hier keine ausreichenden Fortschritte gemacht. Zweifelsohne könnte eine allgemeine Wehrpflicht langfristig diese Aufwuchsfähigkeit sichern. In der Umsetzung würde sie aber Personal, Ressourcen und Zeit kosten, die in der aktiven Truppe dringend gebraucht werden.
Wer also den kritischen Zeithorizont bis 2029 im Blick hat, kommt an der bisher stiefmütterlich behandelten Reserve nicht herum. Von den rund 900.000 Reservisten – allen ehemaligen Soldaten – leistet nur ein Bruchteil von rund 40.000 regelmäßig Reservedienstleistungen ab und erhält so seine Einsatzbereitschaft. Hier braucht es strukturelle Reformen, um die Reserve schnell und umfassend an die Truppe anzubinden. Nicht zuletzt ist es auch eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber der jungen Generation, die Potenziale der Reserve vollumfänglich auszunutzen, bevor es zu einer verpflichtenden Heranziehung kommt. Sollte sich jedoch herausstellen, dass auch die Reserve in ihrer Gesamtheit nicht ausreicht, um uns verteidigungsbereit zu machen – dann, aber auch nur dann, befürworte ich eine Rückkehr zur allgemeinen Wehrpflicht.