Was kann das Europarat-Sondertribunal gegen Russland gelingen? | ABC-Z

hintergrund
Die Ukraine und der Europarat haben ein Sondertribunal zu russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine beschlossen. Was unterscheidet es von anderen Versuchen, die russische Führung zur Verantwortung zu ziehen?
Vor welchen Gerichten können Kriegsverbrechen angeklagt werden?
Anklagen wegen Kriegsverbrechen und anderer Delikte können an unterschiedlichen Orten vor Gericht kommen. Erstens vor den nationalen Strafgerichten in der Ukraine. Zweitens vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag. Drittens vor den nationalen Gerichten in einem anderen Staat, zum Beispiel in Deutschland. Jetzt ist noch eine vierte Möglichkeit dazu gekommen: das Ukraine-Sondertribunal in Den Haag.
Wann ist der Internationale Strafgerichtshof zuständig?
Den Internationalen Strafgerichtshof gibt es seit 2002. 125 Staaten haben ihn anerkannt, darunter Deutschland. Nicht anerkannt haben ihn zum Beispiel die USA, China, Israel, Syrien und Russland. Die Ukraine hat den IStGH 2025 anerkannt. Deshalb kann der IStGH im konkreten Fall auch Verbrechen in der Ukraine verfolgen.
Der IStGH in Den Haag ist nicht automatisch für alle Ermittlungen in Sachen Kriegsverbrechen zuständig. Nach seinem Statut ist er dann zuständig, wenn einzelne Staaten die Verbrechen selbst nicht verfolgen können oder wollen. Diese Voraussetzungen sind bei der Ukraine nicht unbedingt erfüllt, denn die nationale Justiz führt ja schon Verfahren. Trotzdem hat auch die Ukraine schon Interesse geäußert, dass der IStGH mit im Boot ist. Womöglich könnte für einige ausgewählte, größere Verfahren Den Haag der geeignete Ort sein. Es besteht an dieser Stelle kein Konkurrenzkampf.
Für welche Delikte ist der IStGH zuständig?
Im Statut des Gerichtshofs ist festgelegt, dass der IStGH Angeklagte grundsätzlich wegen vier Delikten verurteilen kann.
Kriegsverbrechen: Das sind schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, zum Beispiel die Tötung oder Folter von Zivilisten oder Kriegsgefangenen.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Es geht um Morde, Folter oder Vergewaltigung, die im Rahmen eines “systematischen und weitverbreiteten Angriffs auf die Zivilbevölkerung” begangen wurden.
Völkermord: Dafür braucht es laut Gesetz die Absicht, eine bestimmte Gruppe von Menschen auszulöschen, die sich nach Kriterien wie Nationalität, Religion oder Rasse definieren lässt.
Verbrechen der Aggression: Hier steht die Beteiligung an einem Angriffskrieg unter Strafe. Strafbar können sich nur Führungskräfte machen, etwa Generäle, Oberbefehlshaber oder Regierungschefs, nicht der einzelne Soldat. Man spricht auch von einem “Führungsverbrechen”.
Für eine Anklage müssten die Ermittler zum einen gerichtsfeste Beweise für die Verbrechen haben. Zum anderen muss man die Taten bestimmten Personen zuordnen können. Um auch Personen anzuklagen, die nicht selbst die Verbrechen begangen haben, müsste man die Befehlskette verfolgen können, oder dass “von oben” nicht gegen Kriegsverbrechen eingeschritten wurde.
Warum braucht es ein Sondertribunal?
Das Sondertribunal schließt eine rechtliche Lücke bei der Verfolgung der “Verbrechen der Aggression”. Denn die Voraussetzungen für die Zuständigkeit des IStGH sind bei diesem Delikt strenger als bei den anderen Delikten. Damit der IStGH jemanden wegen “Verbrechen der Aggression” verfolgen kann, müssen sowohl der Angreiferstaat, also Russland, als auch der angegriffene Staat, die Ukraine, das Statut des IStGH anerkannt haben.
Die Ukraine hat den IStGH zwar mittlerweile anerkannt, Russland aber nicht. Deshalb kann der IStGH russische Führungskräfte nicht wegen Verbrechen der Aggression verfolgen. Zwar gibt es noch eine andere Möglichkeit, die ist aber eher theoretischer Natur. Der UN-Sicherheitsrat könnte – per Resolution – die Zuständigkeit des IStGH herbeiführen. Russland hat aber im UN-Sicherheitsrat ein Vetorecht und könnte die Resolution damit blockieren.
Diese rechtliche Lücke soll mit dem Ukraine-Sondertribunal jetzt geschlossen werden. Die Vorbereitungen für das Sondertribunal haben einige Monate gedauert. Jetzt wurde die rechtliche Grundlage dafür geschaffen: ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen der Ukraine und dem Europarat. Den haben der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, und der Generalsekretär des Europarats, Alain Berset, gestern Abend in Straßburg unterzeichnet.
Europarat
Der Europarat ist kein Organ der EU, sondern eine internationale Organisation mit Sitz in Straßburg. Er hat sich dem Schutz der Demokratie und der Menschenrechte auf dem europäischen Kontinent verschrieben. Im Europarat sind 46 europäische Länder Mitglied, unter anderem auch die Ukraine. Russland war bis zum Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine ebenfalls Mitglied im Europarat, wurde aber im März 2022 ausgeschlossen.
Wie geht es nach der Unterzeichnung des Abkommens jetzt weiter?
Im nächsten Schritt können sich interessierte Staaten melden, die am Sondertribunal mitwirken wollen, etwa Mitgliedstaaten des Europarats. Auch außereuropäische Staaten können mitmachen. Australien, Japan und Kanada haben ihre Mitwirkung schon zugesagt.
Geplant ist, dass das Tribunal, wie der IStGH, seinen Sitz in Den Haag bekommt. Besetzt werden soll es mit 15 internationalen Richterinnen und Richtern. Zuständig ist das Sondertribunal ausschließlich für die Verfolgung der “Verbrechen der Aggression”.
Für die Verfolgung der anderen drei Delikte bleibt der IStGH zuständig. Bis das Tribunal arbeitsfähig sei, werde es mindestens noch bis nächstes Jahr dauern, gibt Kai Ambos, Straf- und Völkerrechtler von der Universität Göttingen, zu bedenken. Und bis zu einer potenziellen Verurteilung könnte es dann noch einmal mehrere Jahre dauern.
Können sich Putin und andere russische Führungskräfte vor dem Tribunal auf Immunität berufen?
Ja, aber nur solange sie im Amt sind. Der Europarat und die Ukraine haben sich für das Sondertribunal auf eine Immunität von Staatsoberhäuptern und Außenministern geeinigt, zumindest, solange sie im Amt sind. Das war die Bedingung einiger Länder, um für das Tribunal zu stimmen.
Das heißt konkret: Solange Russlands Präsident Wladimir Putin, Ministerpräsident Michail Mischustin und Außenminister Sergej Lawrow – auch russische Troika genannt – im Amt sind, können sie vom Tribunal nicht wegen des Angriffskriegs verurteilt werden. Auch Haftbefehle können erst nach der Amtszeit erlassen werden.
Das ist ein wesentlicher Unterschied zum IStGH: Dort kann sich auch ein amtierender Staatschef nicht auf Immunität berufen. Das Sondertribunal kann aber auch schon während deren Amtszeit gegen russische Führungskräfte ermitteln und sogar Anklage erheben. Dann muss das Verfahren aber ausgesetzt werden, bis die Führungskräfte ihr Amt aufgeben.
Völkerrechtler Ambos ist der Ansicht, diese Regelungen zur Immunität würden den Hauptzweck des Tribunals vereiteln: die Hauptverantwortlichen des Krieges vor das Tribunal zu bringen. Er sieht das Sondertribunal insgesamt kritisch: “Besser wäre es, das enge Zuständigkeitsregime für Aggression des IStGH-Statuts so zu reformieren, dass dort auch Fälle wie der russische Angriffskrieg verfolgt werden können”, so Ambos.
Welche praktischen Hürden gibt es für die Strafverfolgung?
Das größte praktische Problem dürfte sein, die Beschuldigten tatsächlich auf die Anklagebank zu bekommen. Auch wenn es einen Haftbefehl gegen einen der Beschuldigten gibt: Weder der IStGH noch das Sondertribunal haben eine eigene Polizei, die sie nach Russland schicken könnten, um dort jemanden zu verhaften. Eine Auslieferung ist aktuell unrealistisch. Aber die möglichen Beschuldigten müssten sich gut überlegen, in welche Länder sie reisen, weil das Risiko bestünde, dort verhaftet zu werden.
Mit kurzfristigen Prozessen ist also weder am IStGH noch am Sondertribunal zu rechnen. Ermittler auf allen Ebenen betonen aber immer wieder, dass sie einen langen Atem haben. Und verweisen darauf, dass sich lange Zeit auch niemand habe vorstellen können, dass Serbiens Ex-Präsident Slobodan Milosevic einmal in Den Haag auf der Anklagebank sitzen würde.