Was im Alltag zufrieden und glücklich macht | ABC-Z
Januar: Am Leben sein
Ich stand im Garten, Schlappen an den Füßen, Jacke über der Schulter, als der Feuerwehrmann nacheinander das eingedrückte Dach, die beschädigte Fassade, den verwüsteten Garten und dann mich anblickte. Nüchtern stellte er fest: „Sie können froh sein, dass Sie noch leben.“ Mit „Sie“ meinte er nicht nur mich, sondern auch unsere Kinder. Wir waren alle im Haus, als am 26. Januar aus dem Garten des Nachbarn ein wuchtiger, rund vierzig Meter hoher Baum auf unser Dach stürzte. Aus dem Nichts mitten in unseren Alltag rein.
Es gibt im Laufe eines Jahres immer wieder Situationen, in denen man plötzlich die Luft anhält: „Das war knapp“ oder „Schwein gehabt“, schießt einem dann durch den Kopf – alles in Schauder getunkte Glücksmomente. „Sie können froh sein, dass Sie noch leben“ hatte eine neue Dimension. Es soll nicht pathetischer klingen, als die Realität ist: Nach viel Stress und Ärger hat das Dach wieder Ziegel, die Fassade einen neuen Anstrich und der Garten wieder Rasen. Geblieben aber ist der Satz im Kopf.
Februar: Neu auf der Piste
Kann man mit über 50 Ski fahren lernen? Oder würde ich mir die Haxen brechen und büßen, weil ich meinem Teenager und seinen Kumpels das Unmögliche ermöglichen wollte? Ich fragte – erstens – meine Skifahrerfreunde um Rat. Zweitens delegierte ich die Suche nach einer Unterkunft und den Großeinkauf an die Jugendlichen. Drittens: Skigymnastik mit Timo von Youtube. Täglich. Und nach ein paar Trainerstunden sauste ich dann die Berge hinab. Es macht stark, seine Komfortzone zu verlassen? Ich rauschte über die Pisten und dachte: Wer das kann, kann alles!
März: Mit Blumenjacke
An meiner Garderobe hängt ein schlammfarbener Parka. Beim Kauf vor ein paar Jahren war ich überzeugt, dass dieser Nicht-Beige-, Nicht-Grün, Nicht-Grau-Ton zu allem passen würde. Was ich nicht einkalkulierte: Wer an den fiesesten Tagen des Jahres Schlammton trägt, fühlt sich irgendwann selbst: undefinierbar, farblos und sogar ein bisschen traurig. Meine Laune wurde immer schlechter, hauptverantwortlich war – die Winterjacke. Dieses Jahr war das anders, was ich spätestens im März bemerkte, als alles auf den Frühling wartete, aber man trotzdem noch die Winterjacke brauchte, in der man die vergangenen fünf Monate verbracht hatte.
Meine zog ich weiterhin jeden Tag mit Freude an, ich hatte sie mir zu Beginn der Saison neu gekauft, ein abstraktes Blumenbouquet auf (immerhin) recyceltem Polyester in Orange, Aprikose, Hellblau. Eine Farbexplosion von der Kapuze bis zum Ärmel. Und es verging kaum ein Tag, an dem nicht irgendjemand kommentierte, dass ich als wattierter Blumenstrauß unterwegs war, natürlich nur positiv: „Dich erkenne ich von Weitem.“ – „Bei dieser Jacke bekommt man gute Laune.“ Oder einfach: „Tolle Jacke.“ Wie gut unverbindliche Komplimente tun können, wie schön die Welt doch ist, zeigte mir ausgerechnet meine Winterjacke, im eiskalten März. In diesem Winter trage ich sie wieder.
April: Den Kopf massiert
Zum Beispiel im April und dann alle paar Wochen wieder: Wenn man den Kopf zurücklegt, hinein in dieses Waschbecken. Wenn die Friseurin einem ein sauberes weißes Handtuch umlegt und den warmen Wasserstrahl über den Kopf laufen lässt. Wenn sie besorgt fragt, ob einem die Temperatur angenehm ist. Und dann mit sanft kreisenden Händen oder auch einem extra dafür gemachten groben Kamm die Kopfhaut verwöhnt: Es gibt nichts, was einen stressigen Tag so effektiv unterbricht und einen so richtig runterholt. Ich gleite dabei oft hinüber in einen angenehmen Dämmerzustand und bin danach tiefenentspannt. Schon oft habe ich überlegt, ob ich nicht einfach mal nur eine Kopfmassage buchen soll.
Mai: Mein Baby lacht
„Schrottlachen“ haben wir das als Kinder genannt, wenn etwas so lustig war, dass wir uns keuchend und mit Bauchschmerzen herumwälzten. Mich vor Lachen ausgeschüttet habe ich lange nicht mehr, aber meine Tochter macht nichts lieber als das, und zwar mit einem Geräusch, das Freunde schon fragen ließ: „Ist alles okay bei ihr?“
Auch wir haben nicht gleich erkannt, was das ist, diese seltsame Mischung aus Quieken, Quietschen, Kreischen, Krähen. Am Anfang gab sie es von sich, wenn sich ihr Mobile wild drehte oder wir ihr doofe Sachen vorsangen („da, da, da“). Inzwischen sind wir daran gewöhnt, dass unsere Tochter etwas ihrer Meinung nach höchst Unterhaltsames sieht – zum Beispiel liegt ihr liebster Stoffesel irgendwo herum, sie erblickt ihn wie zum ersten Mal – und sich fröhlich kreisch-quiek-krähend und krabbelnd in Richtung Freudenquell aufmacht. Für mich ist dieses Geräusch jedes Mal wie eine warme Dusche. Sie kräht oft bei Hunden, die liebt sie in jeder Form und Farbe. Dabei ist jeder ihr Freund. Zuletzt lernte sie den Schäferhund meiner Schwester kennen – und zog sich an dessen Lefzen in ihren wackligen Stand. Der Hund hatte mehr Angst als sie. Und meine Tochter? Quietsch-krähte los.
Juni: Familien-Karaoke
Ich gebe zu, ich war skeptisch, als meine Freundin zum gemeinsamen Familienurlaub mit Kindern zwischen neun und 17 Jahren einen gigantischen Bluetooth-Lautsprecher ins Ferienhaus mitbrachte und sagte: „Da können wir doch mal Karaoke machen.“ Für mich ist es kein Problem, mich zum Affen zu machen. Für meine Teenager-Kinder schon. Sie wollen nicht uncool wirken. Noch allergischer reagieren sie allerdings, wenn ihre Eltern aus der Rolle fallen. Versuche jedweder Art, witzig sein zu wollen, werden in der Regel mit einem strengen „Mama!“ im Keim erstickt. Doch an jenem Ferientag schmissen die Kinder schon am frühen Abend die Musikbox an, sangen sich warm, irgendwann machten wir alle mit und tanzten. Legendär der Aufritt, als ich mit meiner 17 Jahre alten Tochter den Refrain von Snap! „ETERNITY! ETERNITY! ETERNITY!“ ins Mikro grölte. Im Video festgehalten für die Ewigkeit. Ein magischer Moment – nicht musikalisch gesehen, aber keiner sagte: „Mama, reicht!“
Juli: Tränen für Taylor
Wenige Tage vor dem Taylor-Swift-Konzert kaufte ich ein weißes Cropped Shirt und gab eine peinlich hohe Summe für Textilfarben aus. Aber da war sowieso schon alles egal: Zu Hause lagen eine herzförmige Sonnenbrille, ein Glitzer-Minirock für 60 Euro und ein Dutzend selbst gemachter Freundschaftsarmbänder. Mein erstes Taylor-Swift-Album hatte ich mit 15, und auch in den Jahren danach haben mich ihre Lieder begleitet. Wie durch ein Wunder ergatterte ich vier Minuten nach Verkaufsstart für die Eras-Tour die begehrten Tickets. Karma, würde Taylor sagen! Seither ließ ich mich von anderen Swifties auf Instagram mitreißen. Für die Vorbereitung des Konzerts gab ich mehr Geld aus als für die Karte. Und das war es wert: Am 28. Juli funkelten, glitzerten, strahlten Zehntausende andere Mädchen und Frauen im Münchner Olympiastadion – so wie ich. Die Stimmung war selig, das Gemeinschaftsgefühl fast greifbar. Und als Taylor Swift endlich, endlich mit einem „Servus“ auf der Bühne erschien, kullerten mir ein paar Tränen über die Wangen. In den nächsten dreieinhalb Stunden sang und tanzte ich mit meinen Freundinnen, als gebe es kein Ende. It was rare, I was there: I remember it all too well.
August: Das neue Paris
Wer mit der neuen, voll automatisierten Metrolinie 14 in gut 20 Minuten vom Pariser Stadtzentrum zum Flughafen Orly gleitet, kann sagen: Merci, Olympia! Das Fest der Sommerspiele ist beendet, aber allenthalben stößt man auf sein Erbe. Millionen Besucher genossen es im Sommer, in der Hauptstadt ungestört vom Autoverkehr zu flanieren. Die „Entschleunigung“ geht auch nach den Spielen weiter. Die verkehrsberuhigten Fußgängerzonen nehmen einen immer größeren Teil des historischen Stadtzentrums ein. Autos müssen etwa künftig einen großen Bogen um den Eiffelturm machen.
Auch am anderen Ende der Linie 14, im armen Norden von Paris, macht sich der Effekt bemerkbar. Der Bürgermeister von Saint-Denis, Mathieu Hanotin, spricht von einem „möglichen Neuanfang“. Die Besucherzahl der Basilika von Saint-Denis, in der die Könige bestattet sind, hat sich verdoppelt. Die Arbeiten zum Wiederaufbau des Spitzturms haben begonnen. Und dann ist da noch die Seine: Niemand interessiert sich derzeit für die Wasserqualität des Flusses, über die so gestritten wurde: Winterpause. Aber nächsten Sommer, heißt es, sollen alle im Fluss baden können.
September: Erstmals Trauzeugin
Selten war ich so aufgeregt wie am Tag der Hochzeit, dabei war es nur die meiner Schwester. Als Trauzeugin hatte ich zwei Aufgaben: die Ringe nicht fallen lassen und meine Unterschrift auf ein Dokument setzen, ohne einen Schweißfleck zu hinterlassen. Hab’s hingekriegt. Dann gab es Sekt aus Plastikbechern im Park, meine Schwester im Brautkleid unserer Mutter unter einer Wimpelkette, die wir uns noch schnell von einer Einschulungsfeier nebenan geborgt hatten. Aus einer Musikbox schepperte Barry White. Es war einfach und einfach schön. Ich atmete durch.
Oktober: Vorfreude
Im kommenden Jahr werde ich 50. Über Wochen drehen sich meine Gedanken um eine große Party mit allen Schikanen. Bis ich auf einmal kapiere: Damit würde ich nur Erwartungen erfüllen; das ist gar nicht das, was ich mir wünsche. Also setze ich mich hin und überlege: Worüber würde ich mich denn wirklich freuen – ohne Wenn und Aber? Die Antwort ist schnell gefunden: im Sommer ein verlängertes Wochenende mit meinen liebsten Freundinnen in einer meiner Lieblingsstädte zu verbringen. Als ich die Save-the-date-Mail verschicke, bin ich ein bisschen nervös: Haben alle Zeit? Als ihre Zusagen bei mir eingehen (es fallen – warum auch immer – die Worte Laborratten, Rotwein, verrücktes Huhn), bin ich ganz beglückt. Seitdem beschäftigt mich die Planung. Und die Vorfreude.
November: Hürde genommen
Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Das spürten meine Freundin und ich in diesem Jahr besonders. Ackern war angesagt. Beim Frühstück, abends auf dem Sofa, nachts im Bett: Immer ratterten die Köpfe. Ihr Referendariat und mein Volontariat verlangten uns vieles ab: Laptop an bis tief in die Nacht, Artikel schreiben am Wochenende, Unterrichtsreihe planen in den Ferien.
Der schwierigste Tag des „Refs“, ein Novemberdienstag, sollte zugleich der schönste werden: Prüfungstag. Angespannt ging meine Freundin morgens in die Schule. Gelöst und glücklich kam sie am Nachmittag wieder raus. In der Hand das vorläufige Zeugnis, im Gesicht ein breites Grinsen. Damit war die letzte Hürde genommen: Für uns beide geht’s weiter in unseren Jobs. Seitdem rattern die Köpfe leiser. Abends auf dem Sofa sitzen wir entspannter. Aber vor allem: Wir reden weniger über die Arbeit.
Dezember: Lebkuchen backen
Wer wahres Glück empfinden will, muss tun, was niemand sonst mag. Und darin etwas Geheimes finden, das nur er liebt. Das geht zum Beispiel beim Elisenlebkuchenbacken im Advent. Allerdings nur, wenn man das Rezept nicht aus einem dieser Hochglanzmagazine mit Landhausgärten nimmt, sondern von der Internetseite eines Elektronikdiscounters, wo Flachbildfernseher und Staubsauger verkauft werden. Warum?
Weil niemand, der irgendeinen Anspruch an sein Leben hat, von dort ein Rezept nehmen würde – mit Ausnahme einer einzigen glücklichen Seele. Dieses Prinzip gilt für alles, auch für Musik. Hört man in der Weihnachtsbäckerei etwas, das alle hören? Das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach vielleicht? Natürlich nicht! Man hört „Norbert Röttgens ultimative Weihnachtsplaylist“ auf Spotify, zwei Stunden und 32 Minuten lang, die irgendeine studentische Aushilfskraft von Röttgen mal erstellt hat, als dieser CDU-Chef werden wollte. Das Cover zeigt Röttgen vor einem Weihnachtsbaum mit einem kleinen Koalabär auf der Schulter, der eine putzige Zipfelmütze trägt. Wer, bitte schön, hört so was? Richtig: der Glückliche. Weil er sich darüber verwirklicht. Und weil das, was niemand sonst mag, ihm allein gehört.