Häufung von Attentaten: Sechs Anschläge in zehn Monaten: „Islamisten sind derzeit besonders motiviert“ | ABC-Z

In München fährt ein afghanischer Asylbewerber in eine Demonstration. Täuscht der Eindruck oder häufen sich solche Attentate gerade? Und falls ja: Warum ist das so?
Es war der sechste offenbar extremistisch motivierte Anschlag in etwas mehr als zehn Monaten: In München raste am Donnerstagvormittag ein afghanischer Asylbewerber mit einem Auto in einen Demonstrationszug der Gewerkschaft Verdi. Dabei wurden laut Angaben der Polizei mindestens 36 Menschen verletzt, einige von ihnen, darunter ein Kind, schwer. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sprach von einem „schweren Anschlag“.
Der mutmaßliche Täter hat mittlerweile offenbar eingeräumt, bewusst in die Streikkundgebung gefahren zu sein. Laut den bayerischen Behörden gibt es zudem Hinweise auf ein islamistisches Motiv.
Was jedoch besonders auffällt, ist der Tathergang, bei dem ein Mann mit einfachen Mitteln versuchte, möglichst viele Menschen zu verletzen. Wie in Aschaffenburg, wo ein Afghane zuletzt mit einem Messer auf eine Gruppe von Kleinkindern losging und unter anderem ein zweijähriges Kind tötete. Oder in Magdeburg, wo ein aus Saudi-Arabien stammender Mann im Dezember ein Auto in einen Weihnachtsmarkt steuerte.
Die Liste der Städtenamen, die synonym für tödliche Attacken stehen, wird immer länger. Viele fragen sich: Warum kommen solche Taten derzeit gefühlt so häufig vor? Warum ausgerechnet vor der Bundestagswahl?
„Das ist nicht nur gefühlt eine Häufung, sondern ein Fakt“, sagt Hans-Jakob Schindler, Leiter des Counter Extremism Project, einer Denkfabrik zur Extremismusforschung, dem Tagesspiegel. „Sechs Anschläge in rund zehn Monaten, so etwas habe ich in meiner gesamten Laufbahn noch nicht erlebt.“
„In ihrer Logik haben sie die Amerikaner aus Afghanistan vertrieben, haben Russland und den Iran aus Syrien geworfen“
Islamismusexperte Michael Kiefer von der Universität Osnabrück schränkt im Gespräch mit dem Tagesspiegel ein: Bei Taten, die von Asylbewerbern mit Alltagsgegenständen wie Messern oder Autos begangen werden, sei keine Zunahme zu beobachten.
Dennoch wird in Politik und Zivilgesellschaft über die Gründe für Taten dieser Art nicht erst seit der Attacke von München spekuliert. Handelt es sich um Nachahmer? Steckt der Islamische Staat dahinter? Oder gar Russland, wie manche am Tag nach der Attacke spekulierten?
Terrorismusexperte Schindler hält derlei Zusammenhänge für abwegig, wie er sagt. Vielmehr spricht er davon, dass mehrere Faktoren zusammenkämen. Einerseits, so Schindler, sähen sich die Islamisten derzeit als Sieger und seien besonders motiviert: „In ihrer Logik haben sie die Amerikaner aus Afghanistan vertrieben, haben Russland und den Iran aus Syrien geworfen“, sagt Schindler. „Die denken sich, dass niemand ihnen etwas anhaben kann.“
„Dass X und Meta ihre Inhalte nicht mehr moderieren, macht es den Islamisten wesentlich leichter, ihre Propaganda zu verteilen“ Hans-Jakob Schindler ist Senior Direktor des internationalen Counter Extremism Project und leitet das Büro in Berlin.
Dazu käme die aufgeheizte Stimmung durch den Krieg zwischen Israel und der Hamas und die abnehmende Regulierung von extremistischen Posts in Teilen des Internets: „Dass X und nun auch Meta, also Facebook, Instagram und Whatsapp, ihre Inhalte nicht mehr moderieren, macht es den Islamisten wesentlich leichter, ihre Propaganda zu verteilen“, sagt Schindler.
„Der IS ruft dazu auf, Messer oder Autos zu nutzen“
Doch warum kamen bei den jüngsten Attacken fast ausschließlich Alltagsgegenstände als Tatwaffen zum Einsatz? Alle zuletzt in Deutschland verübten Anschläge wurden schließlich mit Messern oder Autos verübt.
Für Schindler ist diese Entwicklung keine Überraschung, wie er sagt: „Das ist seit 2017 die explizite Strategie des IS“, sagt der Experte. „Sie haben sich von aufwendigen Attacken, wie etwa 2016 in Paris, abgewandt und rufen dazu auf, Messer oder Autos zu nutzen.“ Dabei setze die Terrororganisation weniger auf gezielte Anwerbung, denn auf ihre Online-Propaganda: „Sie wollen Einzelpersonen zum Terror inspirieren“, sagt Schindler. „Und damit gesellschaftliche Reaktionen provozieren, die ihr Narrativ unterstützen, Muslime seien in aller Welt in Gefahr.“
- Michael Kiefer ist Professor an der Universität Osnabrück. Der Islamwissenschaftler forscht unter anderem zu Radikalisierung, Islampolitik und Antisemitismus.
„Gleichzeitig“, so Islamforscher Michael Kiefer, „erleben wir einen erheblichen Rückgang von Taten, die in Teams organisiert werden, Anschläge wie auf das Bataclan oder in Brüssel. Meine These ist, dass Sicherheitsbehörden organisierte Tätergruppen, die kommunizieren müssen, leichter ausschalten können. Diese Form von Terrorismus erweist sich als zunehmend schwieriger. Wenn man Sprengstoff und Waffen transportieren muss, fällt man mehr auf.“
Das Motiv des mutmaßlichen Täters von München sei noch unklar, so Kiefer. „Ein islamistischer Ausruf alleine macht aus ihm noch keinen Dschihadisten. Hat er islamistische Inhalte konsumiert? Findet man entsprechende Literatur bei ihm zu Hause? Das muss ermittelt werden. Islamist wird man nicht einfach so, das ist dokumentierbar.“ Russische Einflussnahme sei bei dieser Art von Terror jedenfalls bislang nicht bekannt, so der Wissenschaftler.
Der Verfassungsschutz rechnet derzeit mit rund 27.200 Personen, die dem Bereich Islamismus und islamistischer Terrorismus zugerechnet werden. Die Wahrnehmung konkreter Taten und offizielle Zählung weichen dabei allerdings voneinander ab. Für das vergangene Jahr zählt der Verfassungsschutz Stand jetzt auf zwei gesichert islamistisch motivierte Anschläge, Mannheim und Solingen.
Wie aber lassen sich solche Taten künftig verhindern? „Wir brauchen ein besseres Gefährdungsmanagement“, sagt Kiefer. Gefährder müssten besser überwacht werden, Behörden, Aufnahme- und Gesundheitseinrichtungen besser zusammenarbeiten. „Terrorismus hat sich in den letzten sechs, sieben Jahren sehr verändert“, sagt der Islamismusexperte. „Wir haben es mittlerweile vermehrt mit Einzeltätern zu tun, die keinen langen Planungsvorlauf haben. Das macht es für die Sicherheitsbehörden sehr schwer, mögliche Taten im Vorfeld zu identifizieren.“
Von Dennis Pohl, Stefanie Witte