Was die Inflation vom Zins übrig lässt | ABC-Z
Zum Jahresende schauen Anleger gern im Depot nach, was ihre Investments in den zurückliegenden zwölf Monaten so gebracht haben. Doch was sagen die prozentualen Zuwächse wirklich aus? Ob ein Kursanstieg von 10 Prozent gut oder schlecht ist, wird erst deutlich, wenn man einen geeigneten Maßstab heranzieht.
Nvidia-Aktionäre zum Beispiel können schauen, wie sich das Wunderpapier im Vergleich zu anderen Chipherstellern entwickelt hat. Bitcoin-Fans sollten das Kursfeuerwerk ins Verhältnis zu weiteren Kryptowerten setzen. Auch wer Aktien oder Aktienfonds hält, muss schauen, ob die einzelnen Wertpapiere besser oder schlechter als der Markt gelaufen sind. Die Kursentwicklung von Siemens kann man zum Beispiel mit der Dax-Entwicklung vergleichen.
Übrigens gelingt es den wenigsten Fondsmanagern, den Markt zu schlagen, also besser abzuschneiden als die großen Börsenindizes, zu denen die Aktien oder Anleihen gehören, die sie für ihre Fonds ausgewählt haben. Viele Anleger sehen das als Argument für passive Indexfonds (ETF), die mit weitgehendem Verzicht auf Managementkosten einen Marktindex nachahmen und daher gar nicht erst versuchen, besser als der Markt zu sein.
Auch Sparkonto hat Erfolgsmaß
Und dann gibt es noch einen Maßstab, der für fast alle Geldanlagen wichtig ist, egal ob Aktien, Anleihen, passive oder aktive Fonds. Gemeint ist die weitgehend risikolose, weil durch die Einlagensicherung geschützte Geldanlage auf dem Sparkonto. Wirft eine wegen des Verlustrisikos riskante Anlage an der Börse nur so viel ab wie Spareinlagen, hätte man das Geld gleich auf dem sicheren Konto liegen lassen können. Aber auch die Spareinlage hat einen Maßstab, an der ihr Erfolg gemessen wird. Sie muss nämlich die Inflation schlagen. Ob das gelingt, erkennt man am Realzins.
Der Realzins entspricht recht genau der Differenz zwischen der Inflationsrate und dem Nominalzins. Zahlt die Bank für einjähriges Festgeld in Höhe von 10.000 Euro zum Beispiel drei Prozent Zinsen, wächst das Guthaben des Sparers innerhalb eines Jahres auf 10.300 Euro – vor Steuern. Stiegen die Verbraucherpreise im gleichen Zeitraum um zwei Prozent, wächst das Vermögen real, also nach Abzug der Inflationsrate, nur um ein Prozent. Denn der Sparer kann sich wegen der Geldentwertung für jeden Euro zwei Prozent weniger kaufen als noch zu Beginn des Jahres. Trotz des Zinsertrags von 300 Euro wäre er in diesem vereinfachten Zahlenbeispiel ökonomisch betrachtet nur um 100 Euro reicher geworden.
Der Realzins ist ein wichtiger Maßstab für alle Anleger, denn er zeigt, über welche Hürde eine Geldanlage in Aktien, ETF oder Gold mindestens springen muss, damit sie sich mehr lohnt als das weitgehend risikolose Parken des Geldes auf dem Sparkonto. Im Fall niedriger oder gar negativer Realzinsen hängt die Latte niedrig. Selbst schwache Aktien und niedrige Dividenden bringen dann mehr als Spareinlagen. Entsprechend hoch ist der Anlagedruck, weil Sparer händeringend nach Investitionsmöglichkeiten suchen und daher wenig wählerisch beim Kauf von Wertpapieren sind.
Auch auf den in den vergangenen Monaten von Hoch zu Hoch eilenden Goldpreis übt der Realzins traditionell einen wichtigen Einfluss aus. Weil Gold keine Zinsen erbringt, nimmt die Attraktivität des Edelmetalls für Anleger mit sinkenden Realzinsen zu. Im Fall steigender Realzinsen dagegen glänzt das Gold in den Augen der Anleger schon nicht mehr so hell. Dann tragen viele ihr Geld lieber zur Bank statt zum Goldhändler. Diese Faustregel war seit Jahrzehnten relativ zuverlässig zu beobachten.
Gold macht sich vom Zins los
Portfoliomanager Rick de los Reyes von der Vermögensverwaltung T. Rowe Price erläutert in einem aktuellen Marktkommentar allerdings, dass sich der enge Zusammenhang zwischen dem Goldpreis und dem Realzins seit dem Jahr 2022 entkoppelt hat. Der Finanzfachmann verweist dazu auf ein Chart, auf dem sich die seit 2011 zuverlässig in entgegengesetzte Richtungen entwickelnden Kurven des Goldpreises in Dollar und der Realzinsen inflationsgeschützter US-Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit im Jahr 2022 erstmals schneiden.
Eine mögliche Erklärung dafür sind laut de los Reyes die steigenden Defizite in den Staatshaushalten, die Anleger Angst vor einem Wertverfall der Währungen machen. Gold lockt daher viele als vermeintlich oder tatsächlich sicherer Hafen, weil sich das Edelmetall nicht fiskalisch abwerten lässt. Selbst attraktive Realzinsen sind unter diesen Voraussetzungen kein Grund mehr, Goldvermögen in Sparguthaben umzuschichten.
Separat betrachtet sagen aber der Nominalzins und die Inflationsrate wenig aus. Für Anleger kommt es vielmehr auf das Verhältnis der beiden Größen an. Vor einem Jahr haben wir schon einmal einen Blick auf die langfristige Realzinsstatistik der Bundesbank geworfen. Da hatte sich schon einiges getan, und es ging seither weiter: In der Eurozone war die Niedrigzinsphase nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine zu Ende gegangen. Weil der Energiepreisschock zu heftigen Inflationswellen geführt hatte, hatte die Europäische Zentralbank die Zinsen erhöht und bekam die Inflation recht gut in den Griff. Die Realzinsen, die stark eingebrochen waren, haben sich davon inzwischen erholt und stiegen sogar in den positiven Bereich. Mit der Zinswende erlebten lang vergessene Sparbücher ein kurzes Comeback. Ein dauerhaftes Paradies für Zinssparer entstand dadurch aber nicht, weil sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so stark verändert haben, dass die Zentralbank die Leitzinsen nun schon wieder senkt.
Während der legendären Niedrigzinsphase in der Eurozone waren die Inflationsraten zwar sehr niedrig. Trotzdem warf Sparen so gut wie nichts ab, weil Banken kaum Zinsen boten. Die Realzinskurve schleppte sich die Nulllinie entlang (siehe Grafik). Die Europäische Zentralbank musste wegen ihrer Niedrigzinspolitik damals viel Kritik von Sparern einstecken. Doch liegen niedrige Realzinsen eben nicht allein an den Zentralbanken und ihrer Geldpolitik. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass es Phasen mit negativen Realzinsen auch schon zu Zeiten deutlich restriktiverer Geldpolitik mit höheren Leitzinsen gab. Wenn also Großeltern davon erzählen, dass ihre Sparbücher noch sechs bis acht Prozent Zinsen abwarfen, sagt das noch nichts über den damaligen Realzins.
Positiver Realzins nicht immer gut
Dass Niedrigzinsen nicht immer zu negativen Realzinsen führen müssen, zeigt sich auch am Beispiel Japans, der Volkswirtschaft, die wegen ihres chronisch schwachen Wachstums schon sehr lange auf Niedrigzinsen setzt. So rechnet die Portfoliomanagerin Isobel Lee vom Vermögensverwalter Insight Investment in einem aktuellen Marktkommentar vor, dass die japanischen Realzinsen bis zum Jahr 2012 deutlich positiv waren, obwohl die Zentralbank etwa zwei Jahrzehnte lang den Leitzins größtenteils auf null hielt.
Grund für die positiven Realzinsen war die Deflation. Diese führt zu einem steigenden Geldwert, wenn das Angebot an Gütern und Dienstleistungen wegen einer Wirtschaftsschwäche schrumpft. Das ist das Gegenteil von Inflation, aber auch nicht schön. Über einen solchen deflationsbedingten realen Wertzuwachs ihres Vermögens können Sparer sich nicht wirklich freuen.
Für Volkswirte und Verhaltensökonomen ist die Frage spannend, ob Anleger sich überhaupt an realen Zinsen orientieren oder nur auf den plakativen Nominalzins schauen. Auch ist unklar, ob sie ihr Verhalten ändern, wenn sie sich den Zusammenhang bewusst machen. Der für sich genommen wenig aussagekräftige Nominalzins springt sofort ins Auge, weil man ihn an den Kontogutschriften ablesen kann. Kein Wunder, dass die meisten Sparer zuerst auf diese Größe schielen, zumal Banken offensiv damit werben. Rationale Anleger sollten aber versuchen, das zu durchschauen. Der Blick auf die Realzinskurven hilft dabei.