Was das russische AKW in der Türkei für den Westen bedeutet | ABC-Z
Nach dem NATO-Gipfel im Juli hatte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan über die Bundesregierung beschwert. „Wir haben derzeit ein Problem mit Deutschland“, sagte er auf dem Rückflug von Washington nach Ankara vor Journalisten. Er sei „ernsthaft beunruhigt“, dass „die Turbinen für das Kernkraftwerk Akkuyu beim deutschen Zoll warten“. Darüber habe er auf dem NATO-Gipfel mit Bundeskanzler Olaf Scholz gesprochen.
Nun hat der türkische Energieminister Alparslan Bayraktar Deutschland vorgeworfen, für monatelange Verzögerungen beim Bau des Atomkraftwerks Akkuyu verantwortlich zu sein. Konkret nannte er Schaltanlagen des Unternehmens Siemens Energy, die nicht geliefert worden seien. Bayraktar äußerte die Vermutung, dass die Bundesregierung die Ausfuhrgenehmigung für die Komponenten nicht erteilt habe, „um Sanktionen gegen Russland zu verhängen“. Das sei eine politische Entscheidung, für die es keine rechtliche Grundlage gebe.
Ankara habe „jede Art von Garantien gegeben“, dass die Anlagen in der Türkei und nicht in Russland eingesetzt würden. Das Thema sei „auf höchster Ebene“ angesprochen worden. Was die fehlenden Schaltanlagen angeht, sei inzwischen Ersatz in China bestellt worden.
Sorge vor russischen Truppen im NATO-Land Türkei
Akkuyu wird oft als erstes türkisches Atomkraftwerk bezeichnet. In Wirklichkeit ist es ein russisches Kraftwerk auf türkischem Boden. Die geplanten vier Reaktoren sollen von einer Tochterfirma des russischen Staatskonzerns Rosatom nicht nur gebaut und betrieben werden. Sie gehören dem Unternehmen auch, und damit de facto Russland. Ein solches Arrangement ist international einzigartig – und wirft allerhand Frage auf. Nicht nur für die Türkei.
Nach Einschätzung der Türkei-Fachfrau Gönül Tol könnte Akkuyu auch für die NATO zum „Problem“ werden. Das Kraftwerk an der Mittelmeerküste liegt rund 200 Kilometer von der Luftwaffenbasis Incirlik entfernt, auf der die Vereinigten Staaten zwischenzeitlichen Atomwaffen gelagert haben, und 500 Kilometer von der Radarstation Kürecik, die Teil eines NATO-Führwarnsystems gegen Raketenangriffe ist. Tol leitet die Türkei-Abteilung der Washingtoner Denkfabrik Middle East Institute. In einem Beitrag für die „Financial Times“ schreibt sie, die Türkei könnte eine zusätzliche Radaranlage bauen, um die Sicherheit des Atomkraftwerks zu gewährleisten. Unter Militäranalysten und in Verteidigungskreisen gebe es die Sorge, dass Russland als Besitzer des Atomkraftwerks die Kontrolle über die Radaranlage verlangen und sogar eigene Truppen ins Land entsenden könnte.
Diese Befürchtung war erstmals vor zwei Jahren aufgekommen, als der frühere Erdoğan-Berater Cüneyd Zapsu als einziges türkisches Vorstandsmitglied die Betreiberfirma von Akkuyu verklagt hatte. In der Klageschrift heißt es, Zapsu habe sich gegen Pläne ausgesprochen, ein Radarsystem bei der Anlage zu installieren, „wegen ihrer potentiellen Nichtübereinstimmung mit der Sicherheitspolitik der Republik Türkei“. Trotz seiner Einwände sei eine entsprechende Entscheidung getroffen worden. Details werden in dem Dokument, das der F.A.Z. vorliegt, nicht genannt. Zapsu kritisierte zudem, er habe keine ausreichende Einsicht in Unterlagen über die Transaktionen des Unternehmens erhalten. Zapsu trat kurze Zeit später von seiner Position zurück.
„Niemand weiß, ob es eine Art legalen Kontext gibt, um Russland das Betreiben eines Radarsystems zu erlauben“, sagt Fatih Ceylan, ein früherer türkischer Botschafter bei der NATO, der die Denkfabrik Ankara Policy Center leitet. Auch der Bau eines Hafens zum An- und Abtransport der Brennstäbe wirft Fragen auf. Sollte Russland auch den Hafen besitzen, sei das „mit der Souveränität der Türkei nicht vereinbar“, sagt Ceylan. „Niemand bekommt genug Informationen, um zu wissen, was dort in dem Reaktor eigentlich vorgeht.“ Der türkischen Öffentlichkeit wurde die Tragweite des Projekts erst bewusst, als die damalige Vorstandsvorsitzende der Betreiberfirma Anastasija Sotejewa 2022 unmissverständlich sagte: „Dieses Atomkraftwerk gehört Russland.“
Die türkische Regierung begründet ihren Einstieg in die Atomkraft damit, dass sie sich von russischen Gaslieferungen unabhängiger machen wolle. Mit Akkuyu, wo künftig zehn Prozent des türkischen Bedarfs produziert werden sollen, hat sie sich allerdings über Jahrzehnte an Russland gebunden. Fatih Ceylan hält das für „sehr riskant“. Zudem verhandelt Ankara derzeit mit Russland über den Bau eines zweiten Atomkraftwerks in Sinop. Für den türkischen Präsidenten hat sich Akkuyu schon jetzt ausgezahlt. Im Juli 2022 hinterlegte Russland Vorauszahlungen für den Bau des Atomkraftwerks in Milliardenhöhe in der türkischen Zentralbank. Das Geld kam zum richtigen Zeitpunkt, um Engpässe der Zentralbank kurz vor der Wiederwahl Erdoğans zu vermeiden. Offiziell wurde der Transfer damit begründet, dass das Projekt vor westlichen Sanktionen geschützt werden sollte.
Fachleute gehen von einem politischen Projekt aus
Dennoch sagte Rosatom-Chef Alexej Lichatschow im Juli im russischen Staatsfernsehen, das Akkuyu-Projekt werde durch amerikanische Interventionen verzögert. „Amerikaner stellen sich zwischen unsere Körperschaft und unsere Banken.“ Auch die Lieferung von Turbinensätzen für drei der vier geplanten Reaktoren stehen noch aus. Anders als von Erdoğan angedeutet, sollen sie aber offenbar nicht aus Deutschland kommen.
Nach Angaben des Nuklearfachmanns Mark Hibbs sollten sie ursprünglich vom amerikanischen Konzern General Electric geliefert werden, dessen Turbinensparte das französische Unternehmen EDF aber vor Kurzem wieder zurückgekauft hat. Der Verkauf der Sparte, deren wichtigster Kunde ursprünglich Rosatom gewesen sei, sei von der amerikanischen Regierung lange verzögert worden. Es sei unklar, inwieweit sie den Verkauf an die Bedingung geknüpft habe, dass keine Turbinen an Rosatom verkauft würden, sagt Hibbs, der am Carnegie Endowment for International Peace forscht. „Rosatom ist einerseits ein herkömmlicher internationaler Wettbewerber, aber andererseits ein Handlanger Putins.“ Hibbs ist überzeugt, dass der russische Präsident Akkuyu nutzen wolle, um sich Einfluss im NATO-Land Türkei zu sichern. Aus kommerzieller Sicht mache das Projekt für Russland wenig Sinn.
Eine frühere Mitarbeiterin der türkischen Atombehörde berichtet, dass das Projekt dort von Anfang an auf Argwohn gestoßen sei. Technische Expertise der Behörde sei zu keinem Zeitpunkt abgefragt worden. Eine erste Vereinbarung hatten die Energieminister beider Länder 2010 unterzeichnet. Noch 2015 soll es auf türkischer Seite Zweifel gegeben haben. In jenem Jahr hatten die Beziehungen zu Russland einen Tiefpunkt erreicht, nachdem die Türkei an der Grenze zu Syrien ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen hatte.
Die Beziehungen verbesserten sich schlagartig nach dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2016. Noch in der Putschnacht soll Putin Erdoğan militärische Hilfe angeboten haben. Seine westlichen NATO-Partner äußerten sich dagegen reserviert. In dieser Zeit nahm das Projekt Akkuyu Fahrt auf. In der türkischen Atombehörde wurden nach dem Putschversuch, wie in den vielen türkischen Behörden, mehr als hundert Mitarbeiter entlassen. „Sie wollten keine Leute, die wissen, was sie tun“, sagt die frühere Mitarbeiterin. Die Betreiberlizenz für das Atomkraftwerk sei „einfach nur ausgedruckt worden“ – einen Tag, bevor der russische Präsident Wladimir Putin 2018 zum Spatenstich anreiste. „Jetzt sind wir so abhängig von Russland, dass wir kein russisches Flugzeug mehr abschießen könnten.“
Ganz so stimmt das nicht. Der türkische Präsident hat in den Beziehungen zu Russland immer darauf geachtet, seine westlichen Partner nicht vollends zu verprellen. Er hat Waffen an die Ukraine geliefert und den russischen Angriffskrieg ebenso wie die Annexion der Krim verurteilt. Just am Donnerstag lieferte er ein weiteres Beispiel für seinen Balanceakt: Er forderte eine Rückgabe der Krim an die Ukraine.