Was Andreas Wellinger bei sich im Vergleich zu Pius Paschke vermisst | ABC-Z
München. Am Samstag beginnt mit der Qualifikation in Oberstdorf die Vierschanzentournee. Andreas Wellinger erklärt im Interview die Siegchancen.
Olympiasieger Andreas Wellinger (29) machte es sich daheim vor dem geschmückten Weihnachtsbaum gemütlich, Weltcup-Spitzenreiter Pius Paschke (34) schwelgte mit Frau und Kindern bei Braten und Süßgebäck in Festtagsstimmung und in den Kuschelmodus. Die deutschen Skisprungstars genossen ausgiebig die Ruhe vor dem Sturm. Es waren die vorerst letzten stillen Momente: Die Vierschanzentournee, die am Samstag mit der Qualifikation und am Sonntag mit dem ersten von vier Wettkämpfen in Oberstdorf (je 16.30 Uhr/ZDF) beginnen wird, wird ein krachendes Nationenduell mit den ebenfalls starken Österreichern werden. Für die DSV-Adler wäre der Gesamtsieg, der erste seit Sven Hannawald legendärem Grand-Slam-Sieg 2002, etwas Besonderes.
Herr Wellinger, warum bekommen Sie am 6. Januar 2025 in Bischofshofen den Goldenen Adler für den Triumph bei der Vierschanzentournee?
Andreas Wellinger: Wenn das so der Fall wäre, würde ich das definitiv unterschreiben.
Sind Sie in der nötigen Verfassung?
Die Grundvoraussetzung ist geschaffen. Ich bin in Form, ich habe ein System, das fliegt.
Vierschanzentournee: Das ist für Wellinger ein perfekter Sprung
Fehlt nicht noch ein wenig die Konstanz?
Richtig, leider fliegt es nicht immer. Mir sind die letzten Wochen noch zu viele Fehler unterlaufen.
Skispringen ist ein sehr komplexes System. Was sind das für Fehler?
Das Flugsystem funktioniert, auch wenn die Sprünge mal nicht so sauber sind. Aber die Kunst ist es, die richtige Rückenlinie in der Anfahrtsposition zu halten. Wenn das Gesäß höher ist als die Schultern, dann verpufft die Energie aus den Beinen. In der Konsequenz ist der Sprung nicht so effektiv. Wenn es mir gelingt, dass von den Fingerspitzen über die Schultern und die Kopflinie alles paralleler zum Untergrund verläuft, also zur Anlaufspur, dann kommt ein langer Absprung raus und es fliegt sich leichter. Im Moment passt die Arm-Kopf-Linie nicht immer.
Sie starten zum elften Mal bei der Tournee. Was machen Sie mittlerweile anders als bei den ersten Starts?
Die ersten Jahre bin ich frei drauflos gesprungen in dem Sinn, dass ich jung und wild war. Jetzt bin ich ein wenig älter und…
…immer noch wild.
Immer noch wild, aber auch ein wenig reifer. Zumindest verfüge ich über mehr Erfahrung. Das, glaube ich, spiegelt sich darin wider, dass es mir besser gelingt, meine Leistung einzuschätzen. Selbstverständlich schaue ich auf die Ergebnisliste, aber ich messe mich selbst nicht an der Ergebnisliste. Es gibt Tage, an denen springe ich nicht gut Ski, bin aber weit vorne. Dann bin ich trotzdem unzufrieden. Und es gibt Tage, da springe ich gut Ski, aber es reicht nicht. Das ist die Krux, dass wir alle nur ergebnisorientiert reden, weil es am Ende die Ergebnisliste ausmacht…
Nur die interessiert aber die Zuschauer.
Genau. In der Zwischenzeit habe ich gelernt, mich daran zu messen, was ich springen kann und nicht zufrieden zu sein, wenn die Sprünge nicht auf dem entsprechenden Niveau sind. Es ist meine Aufgabe, an jedem Tag das Maximum herauszuholen. Und dann gibt es ein Ergebnis, das besser ausschaut, wenn mir das gelingt. Oder das weniger gut ausschaut, wenn es mir nicht gelingt.
Tournee oder WM-Sieg – welcher Titel Andreas Wellinger wichtiger ist
Viele Springer gehen als Favoriten in die Tournee und straucheln. Was ist an der Tournee so herausfordernd?
Ich will die Tournee nicht als Mythos bezeichnen, weil es kein Mythos ist. Es sind vier Orte, an denen vier Wettbewerbe ausgerichtet werden. Am Ende werden die Punkte zusammengezählt, dann gibt es einen Gesamtsieger. Wir haben bei der Tournee ein deutlich größeres Medieninteresse. Nach meinem Sieg im vergangenen Jahr beim Auftaktspringen in Oberstdorf hat es 75 Minuten gedauert, bis ich nach der Mixed-Zone, Siegerehrung und Selfies bei den Fans wieder oben am Container war. Aber es ist auf der anderen Seite ja auch schön, dass das Interesse so groß ist, weil wir diese Plattform nutzen dürfen, weil wir geile Wettkämpfe abliefern, weil wir ein einmaliges Format zu einer Zeit rund um Neujahr haben, die günstig für uns ist.
Dieses Scheinwerferlicht können Sie nutzen.
Richtig. Wenn man an den vier Tagen gut performed, dann steht man am Ende relativ weit oben. Umgekehrt muss ich sagen, dass ich im letzten Jahr nicht viele Fehler gemacht habe. Es war nur einer (Ryoyo Kobayashi; Anmerkung der Redaktion) besser. Das muss man genauso neidlos anerkennen.
Neben der Tournee haben Sie auch mit Weltmeisterschaften noch eine Rechnung offen. Dreimal sind Sie Vize-Weltmeister geworden, ein Titel ist Ihnen bislang nicht gelungen. Gibt’s dafür Gründe?
Bei der WM in Planica hätten die Kampfrichter auch besser werten können, deswegen bin ich knapp Zweiter geworden, obwohl ich extrem gut skigesprungen bin. Ich würde sagen, dass es an der Haltung nicht mehr scheitern sollte. Bis zur WM in Trondheim haben wir noch etwas Zeit und noch einige Stationen vor uns. Die Schanzen haben wir im Sommer geübt, schauen wir mal, ob wir es im Februar auch können.
Seit Beginn dieser Saison gibt es für eine Telemark-Landung drei statt zwei Punkte. Zunächst war der Aufschrei groß, mittlerweile wird darüber nicht mehr gesprochen. Weil es Skispringen ästhetischer macht?
Es macht schon etwas aus, vor allem dann, wenn man Fehler in der Landung beziehungsweise auch im Landeanflug hat. Mir kommt es weder entgegen, noch bestraft es mich, weil ich meistens eine saubere Landung hinbringe. Es werden eher die bestraft, die nicht so sauber landen. Ich bin mir auch sicher, dass die Spanne bei den Kampfrichtern weiter auseinandergeht, weil nun noch detaillierter begutachtet wird und man geht von Kampfrichter A zu Kampfrichter B hier einen halben Punkt, dort einen halben Punkt auseinander. In Summe ist das dann schon ein Punkt. Aber die sauberen Sprünge werden immer noch honoriert.
Was wäre Ihnen wichtiger – ein Tourneesieg oder WM-Titel?
Der Tourneesieg, weil die Tournee einfach das Event ist, das jedes Jahr sehr viel Spaß macht. Ich bin bei der Tournee schon Zweiter geworden, ich bin bei der WM schon Zweiter geworden. Der WM-Titel wird an einem Tag vergeben, der ein bisschen ein anderes Gesamtkonstrukt ergibt als die Tournee, bei der es über zehn Tage und vier Wettkämpfe geht. Da die Spannung hochzuhalten beziehungsweise die Entspannung hinzukriegen, um am Ende performen zu können, ist eine Challenge. Und ich mag Herausforderungen. Deswegen würde ich eher die Tournee nennen.
Spätzünder Paschke beeindruckt Wellinger noch immer
Ist es schwieriger, die Entspannung zu finden in diesen zehn Tagen als die Anspannung?
Definitiv. Vor allem ist der Wechsel extrem wichtig. Nur wenn man entspannen kann, kann man sich entsprechend wieder anspannen und auf den Punkt fixieren. Das war letztes Jahr nicht optimal, da hätte ich mir noch mehr Entspannungsphasen bewusst suchen sollen. Das ist einfach gesagt, aber schwer gemacht. Aber das eine oder andere kleine Schräubchen weiß ich schon noch zu drehen.
Ihr Teamkollege Pius Paschke ist stark in die Saison gestartet, hat mit seinen 34 Jahren alle überrascht. Sie auch?
Nein, mich hat er überhaupt nicht überrascht. Ich kenne Pius seit langer Zeit. Ich habe ihn in der vergangenen Saison schon performen gesehen, ich habe ihn den ganzen Sommer springen gesehen. Was er da gemacht hat, war verdammt gut. Das hat er sich über die Jahre erarbeitet. Das Einzige, was mich ein wenig überrascht, ist die Konstanz, mit der er es in jedem Wettkampf runterbringt.
Was macht er momentan besser als Sie?
Er hat die Konstanz, die mir im Moment noch fehlt, wodurch er ein noch größeres Selbstvertrauen hat. Seine Sprünge sind teilweise extrem scharf oben an der Kante, aber mit seinem Selbstvertrauen und seiner geilen Flugposition fliegt er einfach runter ins Loch.
Ryoyu Kobajashi ist im Frühjahr 291 Meter weit geflogen. Seitdem wird über die Vergrößerung der Skiflugschanzen diskutiert. Begrüßen Sie als guter Skiflieger diese Weitenjagd?
Das ist fast richtig. Tatsächlich diskutieren wir darüber schon länger. Im März hatten wir in Planica auch eine Athletensitzung dazu. Definitiv hat der Ryoyu mit den 291 Metern eine Tür aufgemacht, beziehungsweise das vorangetrieben in dem Sinne, dass wir uns weiterentwickeln sollten. Ich bin ready. Ich freue mich drauf.
Wie weit sind Sie mit Ihrem Flugschein?
Den habe ich auf Eis gelegt, weil er zu viel Zeit benötigt. Es bleibt dabei: Fliegen nur mit Ski.