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Warum spielen Erwachsene so wenig? – Gesellschaft | ABC-Z

Dieser Text stammt aus dem Familien-Newsletter der „Süddeutschen Zeitung“, der jeden Freitagabend verschickt wird. Hier können Sie ihn abonnieren.

Liebe Leserin, lieber Leser,

kürzlich war ich mit meiner Frau und unserer Tochter mal wieder in Bologna (kann ich nur empfehlen!). Beim Spazieren kamen wir an einem großen Platz vorbei, auf dem bestimmt zwanzig Tische aufgestellt waren. Um jeden Tisch standen ein paar Menschen. Mein erster Gedanke: bestimmt eine Kunstausstellung. War es aber nicht.

Auf jedem Tisch wartete ein Spiel. Da war zum Beispiel ein Ring, den man durch geschicktes Pendeln auf einen Haken schwingen sollte (verdammt schwer!). Wir, und viele andere auf diesem Platz, hatten eine tolle Zeit beim Lösen dieser kleinen Geschicklichkeitsaufgaben. Kinder, Erwachsene, Senioren – grinsend, fokussiert, fluchend. Alle vereint im Spiel.

In diesem Moment ist mir erst so richtig klar geworden, wie selten das ist. Als Erwachsener spielt man nicht einfach so drauflos. Man muss vorher erst einen künstlichen Rahmen dafür schaffen, wie bei meiner Schafkopfrunde. Klappt nur mit festem Termin im Kalender und Whatsapp-Erinnerung am Tag davor. Bei meiner zweijährigen Tochter ist das anders: Sie spielt den ganzen Tag, von früh bis spät, nur unterbrochen von lästigen Dingen wie Trinken, Essen, Windelwechseln und noch lästigeren Dingen wie Schlafen (mittel schlimm) und Zähneputzen (sehr schlimm).

Vermutlich ist sie auch deshalb so geschult darin, wenn es um das Erspähen von Spielplätzen geht. Sie kann einsame Schaukeln und Wackeltiere schon aus beachtlicher Entfernung erkennen. Beim begleiteten Spiel komme ich mir dann oft wie in einer Zwickmühle vor. Ich will nicht, dass sie irgendwo runterfällt und sich verletzt. Aber auch nicht, dass sie das Gefühl hat: Papa traut mir gar nichts zu (und lauert deshalb die ganze Zeit neben mir auf dem Klettergerüst). Wie ein schlechter Personenschützer.

Zum Thema Überbehütung hat meine Kollegin Carolin Fries dieses lesenswerte Interview mit der Psychotherapeutin Maria M. Bellinger geführt (SZ Plus). Die sagt: „Gute Elternschaft ist vergleichbar mit Mitarbeiterführung.“ Heißt in meinen Fall wohl: Ich sollte meiner Mitarbeiterin noch mehr zutrauen und sie öfter einfach mal machen lassen. Das ist auch das Fazit dieses schon etwas älteren Textes meines Kollegen Sebastian Hermann (SZ Plus). Darin geht es unter anderem um den spannenden Studienbefund, wonach Kinder Aktivitäten nur dann als „Spielen“ empfinden, wenn keine Erwachsenen mitmischen.

Dieser Satz eines Entwicklungspsychologen ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: „Der Wunsch nach Autonomie entwickelt sich sehr, sehr früh.“ Als Ausdruck dieses Drangs könne letztlich schon das Krabbeln eines Babys interpretiert werden. Daran werde ich mantraartig denken, wenn meine Tochter das nächste Klettergerüst sichtet.

Ein schönes Wochenende wünscht

Julian Gerstner

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