Warum so wenig Hilfe in den Gazastreiten kommt | ABC-Z
Israel werde Gaza mit Hilfe fluten, hatte Verteidigungsminister Yoav Gallant im Frühjahr angekündigt. Seither bekräftigen Regierung wie Armee ein ums andere Mal, dass es keine Begrenzungen für den Zugang humanitärer Güter in den schwer zerstörten Küstenstreifen gebe.
Doch Hilfsorganisationen sagen, dass sie nicht einmal den dringendsten Bedürfnissen der mehr als zwei Millionen Menschen in Gaza begegnen können. Hunger, Rechtlosigkeit und Verzweiflung herrschen in dem einst fruchtbaren Küstengebiet, auch dort, wo keine Kämpfe toben.
Wer verstehen will, woran die Versorgung der Zivilbevölkerung wirklich scheitert, stößt auf ein dichtes Geflecht von komplizierten Vorgaben und praktischen Problemen. Manche sind in Kriegsgebieten unvermeidbar, anderen könnte möglicherweise leicht begegnet werden. Die F.A.Z. hat mit mehreren UN-Kräften und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen gesprochen, um die Situation in Gaza zu verstehen.
Die Grenzübergänge
Das wichtigste Tor zum Gazastreifen ist derzeit der Übergang Kerem Schalom im äußersten Südosten. Hier, direkt an der Grenze zu Ägypten, wurden schon vor dem Krieg große Gütermengen für das Küstengebiet abgefertigt. Im Gegensatz zum nahe gelegenen Übergang Rafah ist Kerem Schalom für den Lastwagenverkehr ausgebaut. Allerdings müssen alle ankommenden Waren auf Lkw aus dem Inneren Gazas umgeladen werden, da kein Fahrer von außen in das Kriegsgebiet hineinfahren könnte oder wollte.
Die eigentlichen Probleme, so hört man von den Helfern, beginnen aber erst, wenn die Grenze passiert ist. Von Kerem Schalom gibt es derzeit vor allem zwei Routen ins Zentrum und in den Norden des Küstengebiets. Eine führt entlang des Flughafens zur alten Salah-al-Din-Straße, der historischen Nord-Süd-Verbindung durch den Gazastreifen. Sie führt durch das weitgehend zerstörte Khan Yunis bis zu den Depots der Hilfsorganisationen in Deir al-Balah, der letzten vergleichsweise unzerstörten Stadt im Zentrum des Gazastreifens.
Die Herrschaft der Banden
Doch seit die israelische Armee mit ihrer Offensive in Rafah die Hamas auch im Süden des Gazastreifens zurückgedrängt hat, ist die öffentliche Ordnung praktisch zusammengebrochen. Helfer berichten übereinstimmend, dass bewaffnete Banden an der Salah-al-Din-Route Straßensperren einrichteten und den Konvois entweder erhebliche Geldsummen abpressten oder sie ganz ausraubten. In der vergangenen Woche hatten die UN auf dieser Strecke mehr als 50 Prozent ihrer Ladung durch Plünderung verloren, auch, weil sie anders als private Spediteure kein Schutzgeld an die Banden zahlen dürfen.
Seit Monaten wird aus dem Gazastreifen berichtet, dass sich kein Uniformierter mehr auf die Straße traue, um für Ordnung zu sorgen. Denn Israel hatte die Polizisten der einst von der Hamas kontrollierten Sicherheitsbehörden in vielen Fällen als Mitglieder der Terrororganisation betrachtet und daher als legitimes Ziel gesehen. Das Machtvakuum füllten bewaffnete Banden, auch weil Israel kein Interesse zeigt, die Verantwortung für die öffentliche Ordnung zu übernehmen. „Die al-Saladin-Straße ist wahrscheinlich der einzige Ort in Gaza, an dem bewaffnete Männer nur 100 Meter von einem israelischen Panzer stehen können“, sagt ein UN-Mitarbeiter frustriert.
Das Völkerrecht verpflichtet eine Besatzungsmacht eigentlich, für die öffentliche Ordnung Sorge zu tragen und humanitären Helfern ihre Arbeit – so weit es geht – zu ermöglichen. Doch Israels Militär zieht sich auf den Standpunkt zurück, dass diese Pflicht erst gelte, wenn alle Kampfhandlungen beendet seien. Auf Anfrage der F.A.Z. sagt eine Sprecherin, dass sie „große Anstrengungen“ unternehme, „um die sichere Lieferung humanitärer Hilfe zu ermöglichen“, was viele Helfer bezweifeln.
In der Praxis warten auf die Helfer weitere Probleme, wenn die Konvois die Salah-al-Din-Route ohne Plünderung passieren und in die Nähe der Lagerhäuser von Deir al-Balah gelangen. In der entlang der Küste von Israel ausgewiesenen „humanitären Zone“ sind die Straßen meist heillos überfüllt. Ein Großteil der rund 1,7 Millionen Menschen im Süden des Gazastreifens drängen sich auf 13 Prozent der Fläche. Man brauche oft mehr als eine Stunde für einen Kilometer, berichten Helfer, weshalb die eigentlich offene Küstenstraße im Süden praktisch nicht genutzt werden kann. Auch hier kommt es immer wieder zu Plünderungen, wenn die Masse von Hungernden spontan Lkw aufhält und über ihre Ladung herfällt.
Die Straße zwischen den Sperranlagen
Die andere Möglichkeit für die Konvois war zuletzt die sogenannte „Fence Road“, die auf einer Sandpiste zwischen den Sperranlagen bis zum Tor 96 führt. Tor 96 liegt auf Höhe des Netzarim-Korridors, mit dem die israelische Armee den Norden vom Rest des Küstengebietes abgeschnitten hat. Die Fahrt durch die Fence-Road beschreiben UN-Mitarbeiter als besonders nervenaufreibend.
Von israelischer Seite würde ihnen immer wieder gesagt, dass die Fahrzeuge auf der Strecke unter keinen Umständen anhalten dürften, um nicht unter Beschuss zu geraten. Deshalb rasen die Konvois die knapp 40 Kilometer lange Strecke ohne jeden Stopp. Die UN hatten zuletzt versucht, die vergleichsweise sichere Fence Road vor allem für wertvollere Güter zu nutzen. Mehl und einfache Essenslieferungen gehen hingegen über die Salah-al-Din-Straße. Doch Koordination und Abfertigung für diese reine Militärstraße sind besonders kompliziert. Und mit der jüngsten Militäroperation im Norden seien auch dort immer weniger Konvois durchgekommen, heißt es von den UN.
Ein großes Problem der Hilfsorganisationen ist es zudem, genügend Lastwagen und Fahrer zu bekommen, die die Strecke innerhalb Gazas übernehmen. Da die Güter in Kerem Schalom auf israelischer Seite abgeholt werden müssen, brauchen die Fahrer einen israelischen Führerschein. Zudem führen die Behörden strenge Sicherheitsprüfungen durch – gerade wenn es um die Nutzung der militärischen Fence-Road geht. „Selbst wenn nur ein Cousin des Fahrers mit der Hamas verbunden war, gibt es keine Genehmigung“, sagt ein Helfer.
„Israel muss weitere Routen öffnen“
Jonathan Whittall, der die Mission des UN-Nothilfebüros OCHA in Jerusalem leitet und regelmäßig in den Gazastreifen fährt, dringt daher darauf, dass Israel zumindest den Rahmen schafft, damit die UN die Zivilbevölkerung versorgen können. „Israel muss weitere Routen öffnen und längere Zeitfenster für humanitäre Konvois erlauben, damit die UN und andere Organisationen die größte Not im Gazastreifen lindern können“, sagt Whittall der F.A.Z. Weitere Routen und längere Zeitfenster würden es den Helfern nicht nur erlauben, bestimmte Straßen zu umgehen, wenn sie unpassierbar sind, weil dort gerade gekämpft wird, sie im Matsch versinken oder schlicht überfüllt sind.
Den Helfern geht es auch darum, den marodierenden Banden leichter zu entkommen, wenn sie nicht immer zur gleichen Zeit auf der gleichen Route auftauchen müssen. Doch die israelische Armee sieht ihren Teil als ausreichend. Man arbeite bereits eng mit Hilfsorganisationen zusammen, „um deren lebenswichtige Bemühungen um die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und humanitärer Hilfe für die Menschen im Gazastreifen zu koordinieren und umzusetzen“, heißt es auf Anfrage.
Der abgeriegelte Norden
Noch schwieriger ist die Versorgung des inzwischen wieder belagerten Nordens des Küstenstreifens. Seit der ersten Runde der Polio-Impfkampagne, als UN-Teams während humanitärer Feuerpausen in alle Teile des Gazastreifen gelangen konnten, weiß man, dass noch rund 400.000 Menschen im weitgehend zerstörten Gaza-Stadt und den umliegenden Flüchtlingslagern ausharren.
Im August und September konnten Hilfsorganisationen mit Konvois den Norden durch den Übergang Erez versorgen, was die Lage signifikant verbessert hatte. Bevor die Grenzanlagen in Erez beim Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 teilweise zerstört wurden, waren die beiden Übergänge für die Abfertigung großer Mengen ausgebaut. Durch die Nähe zum israelischen Hafen Aschdod ist die Logistik hier besonders einfach.
Doch seit die Armee ihre Operationen gegen die letzten Hamas-Zellen im Norden intensiviert hat, blieb Erez geschlossen. Nur am Mittwoch konnte – offenbar als Reaktion auf enormen Druck aus Washington hin – ein Konvoi mit 50 Lastwagen über Erez West direkt in den Gazastreifen einfahren. Der OCHA Missionsleiter Whittall sagt: „Für die Versorgung der Menschen im Norden ist es unabdingbar, Erez wieder dauerhaft offen zu halten.“
Solange das nicht geschieht, gibt es auch für den Norden Gazas nur den komplizierten und verlustreichen Weg über Kerem Schalom. Die Güter, die es bis ins Zentrum nach Deir al-Balah geschafft haben und für den abgeriegelten Norden bestimmt sind, müssen dort vor der Weiterfahrt in einem Verbindungsbüro mit den israelischen Behörden angemeldet werden – inklusive aller Details wie Ladung, Lastwagen, Fahrer und Route. Vor allem, wenn kurzfristige Nachfragen eintreffen, wird der Prozess immer wieder verlangsamt. Dann muss etwa genau erklärt werden, warum genau jene Menge an Treibstoff bei einem bestimmten Krankenhaus gebraucht wird.
„Die ineffizienteste Operation meines Lebens“
Das größte Hindernis für die Konvois ist es aber, grünes Licht von der Armee zu bekommen. Dafür müssen die Lastwagen an bestimmten Haltepunkten entlang der Küstenstraße warten. Das könne viele Stunden dauern, wenn die israelischen Kommandeure in Nordgaza sagen, dass aus „operativen Gründen“ – also wegen laufender Kampfhandlungen – keine sichere Durchfahrt möglich sei. Ständig passiere es, dass Konvois nach langem Warten umkehren müssen, weil die Zeit nicht mehr ausreicht, um vor Einbruch der Dunkelheit zurückzugelangen. Ein erfahrener Helfer beschreibt die Situation in Gaza als die ineffizienteste humanitäre Operation, die er in vielen Berufsjahren mitgemacht habe. Die Not im Gazastreifen wird bei alldem von Tag zu Tag größer. Nach UN-Angaben leiden 96 Prozent der Bevölkerung in Gaza an Mangelernährung, fast 500.000 Menschen seien von „katastrophaler Ernährungsunsicherheit“ betroffen.
Im Sommer hatte Israel verkündet, dass mehr private Transportunternehmer in die Versorgung Gazas einsteigen sollten. Viele Hilfsorganisationen begrüßten diesen Schritt grundsätzlich, da die Privatunternehmer eine wichtige Ergänzung seien und so wieder ein Wirtschaftsleben in Gaza in Gang kommen könne, auch wenn immer wieder beklagt wurde, dass private und humanitäre Lieferanten gegeneinander ausgespielt würden. Doch eine Reihe von Hilfsorganisationen versucht, das private System zu fördern, indem sie direkte Geldhilfen an Familien in Gaza auszahlen, die sich dann auf den Märkten selbst versorgen können.
Die Privaten haben den Vorteil, dass sie deutlich flexibler agieren können als die an strenge Vorgaben gebundenen UN-Organisationen – unter anderem, indem sie sich mit den marodierenden Banden arrangieren. Zuletzt war allerdings die Befürchtung zu hören, dass Israel den Privatunternehmern wieder die Erlaubnis entziehen würde, da die offenbar Steuern an die Hamas abführen müssten und die Terrororganisation damit unterstützten.
Wenn es um die Abstimmung mit den israelischen Behörden geht, sind die Erfahrungen der Helfer unterschiedlich. Bei COGAT, der Koordinierungsbehörde der Regierung für die besetzten Gebiete, gebe es durchaus engagierte Mitarbeiter, die ihr Bestes zur Versorgung der Menschen versuchten, hört man. Allerdings gebe es auch die, die jeden Vorwand nutzten, um die Arbeit der Helfer zu behindern.
In Israel ist die Frage der humanitären Versorgung äußerst umstritten; die Stimmen derer, die jede Form der Hilfe ablehnen, zumindest solange noch mehr als hundert Geiseln in den Tunneln der Hamas festgehalten werden, sind laut vernehmbar. Ständig wird darauf verwiesen, dass sich auch die Hamas an den Hilfslieferungen bediene, zumal sie ohne Treibstoff für ihre Generatoren ihre Tunnelanlagen nicht mehr belüften könnte. Hinzukommt eine immer massivere Kampagne von Seiten der Rechten, die die Arbeit der UN-Organisationen diskreditiert und als Hilfe für die Hamas darstellt.
Regierung und Armee verweisen indes immer wieder darauf, dass Israel kein Interesse daran habe, die humanitäre Hilfe zu limitieren. Denn die internationale Kritik gegen Israel spiele am Ende nur der Hamas in die Hände.