Wohnen

Warum sich Wissenschaftler in die Politik einmischen sollten – Wissen | ABC-Z

Im Jahr 2020 hat Nature im Vorfeld der US-Präsidentenwahl empfohlen, für Joe Biden statt Donald Trump zu stimmen. Gerade hat ihre Publikation eine Wahlempfehlung für Kamala Harris ausgesprochen. Warum mischt sich ein britisches Wissenschaftsjournal in die US-Politik ein?

Das war 2020 nicht das erste Mal, dass wir einen Kandidaten empfohlen haben. Wir haben auch außerhalb der USA ähnliche Positionen eingenommen, wenn die Wissenschaft und Fakten kompromittiert wurden. Es gehört zu unserer Mission, uns für Wissenschaft und faktenbasierte Entscheidungsfindung einzusetzen. In dem von Ihnen erwähnten Leitartikel geht es explizit darum, aufzuzeigen, was passiert und passieren kann, wenn politische Entscheidungsträger Tatsachen ignorieren und sich über sie hinwegsetzen.

Ist es eine gute Idee, sich mit einer politischen Empfehlung in einer Wahl zu positionieren? Eine Studie argumentierte später, die Unterstützung für Biden habe das Vertrauen in Nature beschädigt.

Die betreffende Studie hat sich mit einer sehr spezifischen Zeit befasst, als wir gerade aus der Pandemie herauskamen. Diese Zeit hat bei einigen das Vertrauen in die Wissenschaft und bei anderen die Skepsis verstärkt. Wir verteidigen die Wissenschaft, um die Bedeutung faktenbasierter Kommunikation und Führung hervorzuheben. Ob unsere eigene Vertrauenswürdigkeit durch die Unterstützung Bidens in der Wahl 2020 beeinträchtigt wurde, wird sich im Laufe der Zeit zeigen.

Sollte die Wissenschaft nicht politisch neutral bleiben?

Wissenschaft an sich ist nicht politisch motiviert. Sie treibt der Wunsch an, die Welt zu verstehen und zu verbessern. Trotzdem ist Wissenschaft natürlich mit Politik verknüpft. Nicht zuletzt, weil Forschung maßgeblich von Regierungen finanziert wird.

Die Genetikerin Magdalena Skipper ist seit 2018 Chefredakteurin des britischen Wissenschaftsjournals Nature.  Skipper studierte an University of Nottingham und promovierte an der University of Cambridge. Sie ist die erste Frau an der Spitze der Nature-Redaktion, seit das Blatt im Jahr 1869 gegründet wurde. (Foto: Foto: Ian Alderman / Springer Nature)

Die Wissenschaft liefert Fakten, die Politik zieht daraus Schlussfolgerungen und überführt diese in Handlungen. Was ist an diesem theoretischen Ideal falsch?

Die Vorstellung, dass Wissenschaftler schlicht Informationen bereitstellen, die von Politikern interpretiert werden, ist irreführend. Wissenschaftler sind in der Lage, ihre Ergebnisse zu interpretieren, obwohl letztlich die Regierungen die Entscheidungen treffen. Es ist entscheidend, dass Entscheidungsträger die Fakten, ihre Grenzen und den Kontext verstehen, damit ihre Entscheidungen auf Wissenschaft basieren. Deshalb setzen wir uns für Wissenschaft und wissenschaftliches Denken ein, was nicht nur für Politiker, sondern für alle Mitglieder der Gesellschaft von vitaler Bedeutung ist.

In der redaktionellen Werteerklärung von Nature steht diese Aussage: „Wir erkennen an, dass es unsere Verantwortung ist, daran zu arbeiten, Ungleichheiten zu überwinden.“ Das ist doch eine eindeutig moralische Haltung und keine wissenschaftliche Position.

Ich stehe hinter unseren redaktionellen Werten, da sie die Rolle der Wissenschaft bei der Verbesserung der Gesellschaft hervorheben und nicht nur Probleme wie den Klimawandel, den Verlust der Biodiversität oder globale Ungleichheit beschreiben. Wissenschaft bietet Lösungen für diese Probleme. Es sollte nicht allein den Entscheidungsträgern überlassen werden, diese zu finden.

Auf X (ehemals Twitter) hat Nature kürzlich kritisiert, dass in diesem Jahr die Nobelpreise nur an Männer vergeben wurden. Warum wird die Identität der Forscher so stark betont?

Es ist enttäuschend, dass erneut nur Männer die Nobelpreise in den Naturwissenschaften gewonnen haben, obwohl dies ihre Leistungen nicht schmälern soll. Die entscheidende Frage ist, ob diese Auszeichnungen unter gleichen Chancen vergeben wurden. Geschichte und Studien zeigen, dass Frauen lange Zeit unterrepräsentiert waren und ihnen der Zugang zu Einfluss und Entscheidungsfindung in der Wissenschaft verwehrt wurde. Forschung hilft uns, Ungleichheiten zu verstehen und anzugehen.

Aber was ist mit Ungleichheit genau gemeint? Geht es am Ende also um die Identitäten der Forscher und weniger um ihren Verdienst und die Qualität ihrer wissenschaftlichen Arbeit? 

Wir sprechen viel über Gerechtigkeit und Gleichheit, aber ich hinterfrage, ob Identität in der Wissenschaft über Verdienst priorisiert werden sollte. Es fühlt sich wie eine falsche Dichotomie an. Für mich gehören Identität und Verdienst in unterschiedliche Kategorien, das ist, wie Äpfel und Birnen zu vergleichen.

Wissenschaftliche Fachzeitschriften weiten das Thema Gleichheit und Gerechtigkeit derzeit stark aus. Manche Beiträge argumentieren, dass die Wissenschaft selbst nur ein westliches Konstrukt sei und es andere, ebenso gültige Systeme wie etwa indigenes Wissen gebe. Entwertet sich die Wissenschaft da im Namen eines politischen Anliegens selbst?

Es ist ein positives Zeichen, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft selbstkritisch ist und ihre Geschichte und Praktiken hinterfragt. Diese Ehrlichkeit und Transparenz spiegeln Stärke wider und zeigen den gleichen kritischen Ansatz, den die Wissenschaft auf andere Bereiche anwendet. Die Anerkennung vergangener Mängel ist ein positiver Schritt, während eine Leugnung kontraproduktiv wäre. Während viel grundlegende Mathematik im Nahen Osten und in Zentralasien entstand, konzentrierten sich moderne wissenschaftliche Entwicklungen größtenteils in der westlichen Welt. Leider umfasst die Geschichte der Wissenschaft auch ausbeuterische Elemente. Aktuelle Diskussionen zielen darauf ab, diese Ausbeutung zu identifizieren und zu versöhnen, wobei anerkannt wird, dass ein inklusiverer Ansatz für den Wissenserwerb von Vorteil ist.

Verwässert dieser „inklusivere Ansatz für den Wissenserwerb“  die etablierte wissenschaftliche Methode?

Im Allgemeinen folgen die wissenschaftlichen Arbeiten, die in Nature und anderswo veröffentlicht werden, etablierten wissenschaftlichen Methoden, die von Forschern weltweit anerkannt sind. Ein wichtiger Aspekt von Inklusion ist jedoch, die vielfältigen Quellen anzuerkennen, die die Forschung informieren. Historisch gesehen haben viele heute auf dem Markt befindliche Medikamente ihre Ursprünge in Pflanzen oder Extrakten, die von indigenen Völkern identifiziert und später durch moderne Techniken verfeinert wurden. Diese Richtungen sind spannend, da die Wissenschaft die Zusammenarbeit mit zuvor übersehenen Perspektiven erkundet. Die Betrachtung indigenen Wissens als eine gültige Form der Erkenntnistheorie ist ein aktives Forschungsfeld. Viele Erkenntnisse, die auf traditionellen indigenen Praktiken basieren, wurden durch wissenschaftliche Methoden verifiziert. Meiner Ansicht nach fehlt uns ausreichende Einsicht in das indigene Wissen, da es über weite Strecken der Geschichte als weniger wertvoll erachtet wurde.

Würden Sie in ein Flugzeug steigen, das ausschließlich nach Prinzipien indigenen Wissens gebaut wurde?

Das Ziel ist nicht, einen Ansatz durch den anderen zu ersetzen, sondern kooperative Lösungen zu finden. Während die moderne Technik ihre Erfolge hat, haben wir auch spektakuläre Misserfolge gesehen. Der Schlüssel liegt darin, eine Schwarz-Weiß-Perspektive zu vermeiden und offenzubleiben, um die besten Lösungen für spezifische Herausforderungen zu identifizieren. Historisch gesehen haben Denkweisen, die einen Ansatz als überlegen betrachten, Fortschritt behindert. Jetzt ist die Forschungsgemeinschaft zunehmend offen dafür, vielfältige Lösungen für verschiedene Probleme zu erkunden.

An Universitäten hat alles, das als westlich gilt, gerade oft einen schweren Stand. Das findet etwa Ausdruck in den anti-israelischen Protesten an Universitäten in den USA und Europa. Beeinträchtigt das die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft?

Ich sehe nicht, wie das das Vertrauen in die Wissenschaft beeinflussen könnte. Die von Ihnen genannten Beispiele beziehen sich hauptsächlich auf die akademische Freiheit und konzentrieren sich auf die Rolle der Universitäten bei der Förderung offener Debatten. Ich glaube nicht, dass diese Themen direkt mit der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft zu tun haben. Wir alle sollten gemeinsam klarer kommunizieren, was Wissenschaft ist und was nicht. Wissenschaft findet nicht nur an Universitäten statt, sondern auch in Forschungseinrichtungen und zunehmend im privaten Sektor.

Dennoch: Das Vertrauen in die Wissenschaft mag zwar noch hoch sein, aber es nimmt ab, wie Umfragen zeigen.  Was sollten wir Ihrer Meinung nach dagegen tun? 

Es gibt mehrere wichtige Aspekte, die wir berücksichtigen sollten, insbesondere in Bezug auf verantwortungsvolle und nuancierte Berichterstattung über Wissenschaft. Wir benötigen verantwortungsvolle Führung – sowohl in der wissenschaftlichen Gemeinschaft als auch in der Politik – die auf faktenbasierte Kommunikation Wert legt, anstatt auf unbegründete Aussagen. Die heutige schnelle Kommunikation bietet oft nicht die Zeit für Verifizierung und Erklärung. Die wissenschaftliche Gemeinschaft, einschließlich meiner Person, hat eine bedeutende Rolle dabei, transparent zu kommunizieren, wie Wissenschaft betrieben wird.

Back to top button