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Warum sich Pontresina mehr lohnt als St. Moritz | ABC-Z

Die berühmten Philosophen haben keine Chance. Nachdem man aus der Gondel der Standseilbahn und aus dem Gipfelhotel auf dem Ausflugsberg Muottas Muragl herausgetreten ist, stehen zwar auf Tafeln entlang des Wanderweges immer wieder anregende Gedanken von Marcel Proust und vielen anderen. Im Endeffekt aber hat man auf dem Ausflugsberg im Schweizer Oberengadin vor allem Augen für die Umgebung. Denn: Auf 2453 Metern liegt einem die grandiose Winter-Alpenwelt zu Füßen. Egal, ob man auf wärmenden Fellen bei einem heißen Getränk auf der Terrasse, in einem der Strandkörbe oder eben beim Schneespaziergang auf dem Philosophenweg den Blick über das Tal schweifen lässt. Über die Seen der Engadiner Seenplatte. Über zahlreiche Berge und Gipfel und das Bernina-Massiv. Über kleine Orte wie Pontresina. Und das wahrscheinlich berühmteste Skidorf der Welt: St. Moritz.

Fleißig Ski gefahren wird dort noch immer. Ebenso auf der jährlich von Hand gebauten Natureis-Bahn auf Bob runtergerauscht. Oder auf dem zugefrorenen Sankt Moritzersee Schlittschuh gelaufen. Fährt man vom Bahnhof die langen Rolltreppen in den Ort hoch, landet man zudem auf einem anderen Planeten. St. Moritz ist schließlich ein berühmt-berüchtigter Magnet für Gäste aus der ganzen Welt, von denen viele mehr Geld haben, als sie ausgeben können. Beim Schlendern durch die Fußgängerzone erlebt man daher das Schaulaufen mit gern exzentrischer Designer-Wintermode, Pelzmänteln, sündhaft teuren Handtaschen und goldenen Moonboots. Es ist ein Luxus-Ski-Zirkus mit aufgespritzten Lippen und schönheitsoperierten Gesichtern und ein Sehen und Gesehenwerden des Jetsets, der hier auch die entsprechenden Einkaufsmöglichkeiten findet. In den Gassen reihen sich zwischen exklusiven Hotelpalästen, Restaurants und Après-Ski-Bars die Boutiquen aneinander. Gucci. Prada. Armani. Louis Vuitton.

Etwas verloren wirkt dazwischen die Statue des Mannes, der den Wintertourismus zumindest laut einer Legende nach St. Moritz gebracht haben soll. Seinen englischen Sommergästen soll Hotelier Johannes Badrutt 1864 einen Vorschlag gemacht haben: raus dem englischen Nebel! Und stattdessen in St. Moritz Schnee und Sonne genießen! „Sollte es euch nicht gefallen, übernehme ich die Reisekosten“, soll er angeboten haben. Die Engländer kamen zu Weihnachten und blieben bis Ostern, bis sie von der Wintersonne braun gebrannt nach England zurückkehrten. Die Ära des Wintertourismus und des Wintersports begann.

„Auch Pontresina zog in dieser Hinsicht einige Jahre später nach. Zwischen 1880 und 1910 sind 18 Hotels entstanden“, erklärt Gästeführerin Christine Salis bei ihrer Spaziertour durch das deutlich bodenständigere Nachbardorf von St. Moritz im Seitental Val Bernina. Ganz besonders sei dabei das Grand Hotel Kronenhof aus der Belle Époque, das wie die meisten der Geschäfte, Restaurants und Hotels an der Hauptstraße des langgestreckten Ortes liegt. Beim Rundgang dort schweift Salis zurück in die Geschichte der Gegend und berichtet von der kleinen Eiszeit bis Mitte des 19. Jahrhunderts, die viele Bewohner zum Auswandern zwang. Sie erklärt den Aufbau der Engadiner Häuser, deren Fassaden oft mit der traditionellen Kratztechnik Sgraffito verziert wurden und deren dicke Mauern in den grimmigen Wintern die Wärme im Haus halten sollten. Und sie erzählt von Säumern, den mutigen Händlern, die hier Waren auf Pferde luden und über die gefährlichen Pässe brachten. Der Ort selber liegt 1800 Meter hoch und zudem von Gipfeln umgeben, die nicht selten um die 4000 Meter hoch sind – so wie das Bernina-Massiv mit dem Piz Bernina. „Früher sind Lawinen auf Pontresina niedergegangen – zuletzt 2001“, sagt sie und zeigt auf die Berge, wo 16 Kilometer Lawinenschutz errichtet wurden. Außerdem habe man 1,3 Millionen Bäume angepflanzt als weiteren Schutz.

Obwohl es kalt ist und genug Schnee liegt zum Skifahren und für andere Wintersportarten, zeigen sich auch hier wie vielerorts auf der Welt die Folgen des Klimawandels. Die Gletscher in den Alpen schmelzen, darunter der nahegelegene Morteratsch-Gletscher. „Auch die Gletschergrotten gibt es nicht mehr, in denen wir Wanderungen angeboten haben. Daher mussten wir erfinderisch werden und hatten die Idee für das Winter-Canyoning“, sagt Wintersport-Guide Hans Gantenbein auf dem Weg zum Startpunkt, der mitten in Pontresina liegt: in der Pontresina Schlucht, die direkt durch den Ort führt. Wo im Sommer ein Fluss fließt, wird jedes Jahr im Winter der Parkour neu aufgebaut und das immer ein bisschen anders.

Nachdem Hans schaut, ob sich jeder das Geschirr richtig angelegt hat, gibt es noch ein paar Instruktionen. Wichtig ist, darauf zu achten, mit den Haken entlang der Strecke immer am Drahtseil gesichert zu sein – dann geht es los! Klettern, Balancieren, immer wieder an Ziplines durch die Schlucht brausen. Die Felswände sind mitunter recht steil, sodass man auf jeden Fall schwindelfrei sein sollte. Während man oben über dem Schluchtenrand manchmal noch die Häuser Pontresinas sieht, landet man hier unten in einem ganz eigenen Winterkosmos. Schritt für Schritt geht es weiter durch die Schlucht, während man die vereiste Schönheit, die gefrorenen Verästelungen und all die eingeschneiten Verzierungen auf dem schroffen Gestein bewundert, die bald alle wieder wegschmelzen werden. Schließlich wird man ein letztes Mal an eine Zipline angeleint und beendet die Tour bei einem vereisten Wasserfall und an hohen Eiskletterwänden, an denen sich viele Kletternde eifrig hocharbeiten.

Nach dem Canyoning kann man etwas Entspannung gut vertragen – in der Therme mitten im Nachbarort Samedan, die genauso ungewöhnlich ist wie der Ausflug in die Schlucht. In dem schmalen, fünfstöckigen Bau am zentralen Platz versteckt sich schließlich das erste vertikale Mineralbad der Schweiz. Weil kein besonders großes Grundstück am zentralen Platz zur Verfügung stand, hatten die Architekten die Idee zu dieser ungewöhnlichen Anordnung. Anders als in anderen Wellness-Anlagen verteilen sich die Räume in Samedan nun senkrecht auf zwei Unter- und drei Obergeschosse – man badet sich sozusagen in die Höhe. In jeder Etage erwartet die Besucher etwas anderes: eine andere Lichtstimmung, unterschiedliche Wassertemperaturen, Dampfbäder und Saunen.

Zum Finale landet man schließlich auf dem Dach in einem Becken unter freiem Himmel. Einen genialen Ausblick hat man auch hier auf die Berge und den Ort. Diesmal allerdings zieht die Umgebung in Sachen Aufmerksamkeit den Kürzeren, während man tiefen­entspannt im warmen Wasser die Augen schließt.

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