Warum sich die Motive ähneln | ABC-Z

Wer heiratet, und das tun in Deutschland noch erstaunlich viele, wird bald von allem möglichem überrascht werden: Vom Leben beispielsweise, um gleich mit dem Allerhöchsten anzufangen – dass es noch immer einen Trumpf in seinem Ärmel führt, selbst wenn man davon ausgegangen war, sein Spiel zu kennen. Von seinem Liebespartner, für den Ähnliches galt, und mit einem Mal tritt er einem in gewandelter Gestalt zur Seite: als Ehepartner. Gewissermaßen veredelt oder gereift unter dem Versprechen für alle Zeit, die einem von jetzt an noch bleiben wird.
Schließlich nachgeordnet, aber keineswegs unbedeutend: von den Dingen. Von den Kleidern der Gäste bis hin zu deren Schuhwerk, Hüten, Broschen und Uhren, den Blumen und Speisen und, dies aber erst am anderen Morgen oder noch in der Nacht nach dem Fest, den Geschenken. Und vor allem, womit wir bei den kleinsten unter den vermeintlichen Kleinigkeiten angelangt wären: den Karten, in deren Begleitung diese Geschenke dem Brautpaar angetragen wurden.
Hochzeitskarten sind etwas Außergewöhnliches. Zumindest stellt man sich das im Vorhinein so vor. Ungefähr in dem Maße, wie man sich die Hochzeit selbst vorstellt. Ohne jedoch groß im Fachhandel recherchiert zu haben, was da auf einen zukommen könnte. Denn es soll ja alles in allem eine Riesenüberraschung werden.
Inszenierte Beweisfotos der eigenen Existenz
Noch nie waren die Hochzeiten derart minutiös und en détail geplant. Bis hin zum Farbschema für Brautjungfern, Tortenguss und Tischblumen. Grund dafür: in den meisten Fällen Instagram. Das Grundgesetz der App lautet: Pics or it didn’t happen (Bilder – oder es ist nicht passiert). Allerdings hat es sich mittlerweile durchgesetzt, diese Beweisfotos von der eigenen Existenz so aufwendig wie nur irgend möglich zu inszenieren. Selbst die berühmte Fotografin Annie Leibovitz soll vor mancher Hochzeitsfeier unter Fotoamateuren ihren Chapeau gezogen haben ob all dem arrangierten High-Gloss-Glamour.
Umso aufregender für uns Amateursemiotiker, dass es tatsächlich noch einen Bereich gibt, der sich dem allgemeinen Gestaltungswillen entzieht. Denn das Reservat der Hochzeitskarten wurde vom Insta-Style-Terrorregime noch nicht unterworfen.
Um hier all jenen Leserinnen und Lesern nicht zu viel zu verraten, die ihren Tag, der ja als der schönste im Leben begriffen wird, noch vor sich haben, sei hier nur so viel gesagt: Es geht vor allem um Fahrräder. Zumindest war das in unserem Fall so. Eventuell also ein Einzelfall – schließlich hat jedes Liebespaar auch das Recht, sich als exzeptionell zu erachten. Also erreichten uns, beide sind wir keine Radfahrer, reichlich von Fahrrädern gezierte Karten. Und zwar in beinahe sämtlichen Formen: als Hollandrad, als Vintage-Drahtesel, als Normalorad von nebenan. Und freilich als Tandem.
Es sind Fahrräder zu sehen, keine fahrradelnden Menschen
Denn die Fahrradstillleben, die einen Großteil der Hochzeitskarten illustrieren, handeln von einem Radeln zu zweit. Beziehungsweise, das macht das Nachdenken über diese Motivik so interessant, zeigen sie eben nicht das Radeln selbst, also etwa ein Paar in Schleier und Smoking, das, barfuß oder in lackierten Schuhen, den Brautstrauß um sich werfend, die Pedale des Lebensweges tritt, um hier einen ersten, noch sehr groben Deutungsversuch abzugeben. Es sind nämlich bei den meisten zur Analyse herangezogenen Karten ausschließlich die Fahrräder selbst zu sehen. Keine fahrradelnden Menschen. Noch nicht einmal die Insignien des Brautpaares, Schuhe, Schleier, Fliege, Strauß, werden gezeigt. Wo die Fahrräder an einem Strand im Sonnenuntergang beieinanderliegen, verlieren sich die Spuren von menschlichen Fußabdrücken im Sand. Sie führen über den Bildrand hinaus, den Grafiker in ihrer zwangsläufig gefühllosen Sprache als Beschnitt bezeichnen.
Die wenigsten Brautleute interessieren sich für Grafikdesign. Beziehungsweise interessiert sich mittlerweile dank Instagram jeder zumindest ein bisschen dafür, weil es ja bald überhaupt nichts mehr geben wird, das nicht gestaltet wirkt. Warum also Fahrräder zur Hochzeit? Bevor wir uns dieser Fragestellung zuwenden, muss es kurz grundsätzlich werden: Wozu sind diese Karten denn eigentlich da?
Der französische Ethnologe Marcel Mauss hat im frühen 20. Jahrhundert aus einem anderen Anlass über das Wesen der Gabe nachgedacht. Genau genommen handelt es sich bei den Geschenken auf einer Hochzeitsfeier um solche. Konservativ geht man bis heute davon aus, den Gegenwert der auf der Hochzeitsfeier konsumierten Speisen und Getränke in Form einer Gabe mitzubringen. Also ungefähr 150 Euro pro Gast. Mindestens. Zumindest liegt man dann nicht falsch, beziehungsweise wird nicht als geizig verschrien.
In Deutschland verbirgt man die Gabe in einer Karte
In den ländlichen Regionen der Republik, besonders auch im ländlichen Osten, wird statt einer physischen Gabe auch noch Bargeld überreicht. Wer das Glück hatte, wie der Franzose Mauss schon auf einem Ehefest in anderen Kulturen, beispielsweise der indischen, äthiopischen, osmanischen, arabischen, chinesischen oder thailändischen Tradition, als Gast hinzugeladen worden zu sein, dem wird nicht allein aufgefallen sein, dass diese Feierlichkeiten in einem teils extremen Maße überschäumender als bei uns begangen werden. Vor allem regnet es dort geradezu Bargeld. Es wird eingesammelt, es wird dem Brautpaar angeheftet, man lässt es publikums-, häufig mittlerweile natürlich auch kamerawirksam auf das Brautpaar niedergehen.
In Deutschland verbirgt man seine Gabe in der Karte. Oder man gibt die Karte seiner Gabe bei. Auch hierzu hat Mauss den wesentlichen Gedanken schon vor etwa hundert Jahren erfasst. Mit der Industrialisierung fing auch das Verschenken von industriell erzeugten Produkten an. Um sie persönlicher zu gestalten, um der Gabe die Handschrift des Schenkenden aufzuprägen, wird in dieser Zeit auch das Einwickeln in Geschenkpapier populär. Oder Usus?
Denn wie es als No-Go gilt, auf einem Hochzeitsfest im gleichen Aufzug wie ein anderer Gast zu erscheinen, ihm sozusagen die Show zu stehlen, so sollte auch jede Gabe als Unikat zumindest den Anschein machen dürfen.
Der Schenkende lässt seine Karte sprechen
Ganz schwierig in dem Zusammenhang ist Geld. Zwar sehen sich alle Geldscheine einer Währung ähnlich und sind die Noten eines Wertes sogar identisch, aber Geld ist, weder kulturhistorisch noch ethnologisch oder gar in unserer Wahrnehmung, ein bloßer Gegenstand. Wer drei Scheine verschenkt, verschenkt ja in Wahrheit viel mehr. Geld ist also eine Metapher. Es steht für etwas. Aber weil das, was der Adressat der Geldgabe in den Scheinen erkennt, nicht kommunizierbar ist, lässt der Schenkende seine Karte sprechen, in der die Gabe überreicht wird.
In dem Moment, da die Beschenkten auf dem Hochzeitsfest die Karte entgegennehmen, dürfte es ihnen noch gar nicht aufgefallen sein. Aber nach dem Fest, in der Nacht oder am Morgen darauf, wenn das Auswickeln der Geschenke auch eine Revue der Highlights des Festes heraufbeschwören soll, drängt sich die Frage umso nachhaltiger auf: Warum Fahrräder?
Jetzt wäre es wundervoll, Marcel Mauss, wie in des Schriftstellers Arno Schmidts Gedankenspiel „Goethe und Einer seiner Bewunderer“, für 15 Stunden noch einmal zurückzurufen ins Leben, um mit ihm zusammen einen Gabentisch auf einer deutschen Hochzeitsfeier zu analysieren. Auf die Fahrradfrage würde er, wenn er das teure Papier und die raffinierten Druckverfahren unserer Gegenwart zu Ende bewundert hätte, vermutlich antworten: Pourquoi pas? C’est rigolo, hein? (Warum nicht? Das ist lustig, oder?)
Für einen im 19. Jahrhundert geborenen Mann gehörte das Fahrrad noch zur Phalanx der menschlichen Ingenieurskunst. Ein Symbol des Fortschritts. Und auf eine gewisse, ellipsoide Weise ist es ja das auch immer noch, oder wieder, für uns. Denn was unsere Zeit doch deutlich von früher unterscheidet, ist, dass es die eine Strömung nicht mehr gibt, in die sich alle fügen wollen. Alles strebt irgendwie zwangsläufig voran wie ein Paar auf dem Tandem, aber es sind unterschiedlichste Paarungen auf unterschiedlichsten Vehikeln dorthin unterwegs.
Oder wie es mir der belgische Kurator Chris Dercon in einem Sommer vor bald zwanzig Jahren prophezeit hatte: We are synchro time. (Wir sind synchronisiert.) Trends lösen einander nicht mehr ab – ob in der Mode, der Musik, in der Gesellschaft, der Kunst oder sogar in der Politik, sondern sie entstehen und vergehen nebeneinander. Und ebenso entstehen und vergehen nebeneinander die Interessensgruppen, Anhängerschaften, Beutegemeinschaften und Glaubensrichtungen, aus denen eine Gesellschaft sich zusammengesetzt betrachten lässt.
Bei so viel gleichzeitiger Diversität ist es noch schwieriger geworden, den Geschmack der Einzelnen zu treffen, ohne dabei vielen anderen auf die Füße zu treten. Als Menetekel unserer eindeutig nach dem Uneindeutigen strebenden Gesellschaft dient die endlose Palette der sogenannten Emojis, die unter vielem, allerdings interessanterweise halt nicht allem, auch den Schnurrbartträger im Brautkleid, inklusive Schleier, in petto hält. Oder Fiktives, wie beispielsweise den schwangeren Mann.
Man möchte wenig polarisieren
Wie will man in einer Gesellschaft, die diverse Ideen ungefähr gleichrangig kultiviert, noch ein einziges, gewissermaßen „das“ Sinnbild finden für den sogenannten Bund fürs Leben? Für die Ehe stand früher, als es noch Eheanzeigen gab, das Symbol der ineinandergelegten Ringe. Im Vorläufer der Emojis, dem ominösen Menü der Schriftart „Zapf Dingbats“ im Textverarbeitungsprogramm Word von Microsoft, das sich in seinem Vokabular noch stark an die Schnibbelbücher des 19. Jahrhunderts angelehnt hatte, war dieses Symbol noch parat.
Was heute noch immer für alle geht, ist Essen. Beziehungsweise ging, denn mittlerweile könnte man selbst mit einem Bild von Lebensmitteln eine Diskussion heraufquirlen unter Konservenfreunden, Vegetariern, Fitnessfreaks, Allergikern und Abstinenzlern, die man gerade im Zusammenhang mit einer Liebesfeier gar nicht um sich haben wollte.
Das Fahrrad aber holt wohl alle ab. Derzeit wirkt es als das am geringsten polarisierende Symbol eines Aufbruchs, den eine Eheschließung trotz ihres Namens vor allem verheißt. Die Bierdosen, die man zu Abgaszeiten dem gemeinsamen Aufbruch zur Feier übers Pflaster scheppern ließ, spart man sich heute besser.
Denn der Linienbus aus dem Film „Die Reifeprüfung“, mit dem Benjamin Braddock und Elaine Robinson von der Hochzeitszeremonie fliehen, ist mitsamt seinen Qualmwolken aus der Zeit gefallen. Ein Mercedes oder dergleichen, Limousinen generell, machen alt. Wer will schon von Tag eins seiner Ehe an etabliert wirken? Ein Porsche wiederum verströmt den Hautgout einer Midlife-Crisis, bevor es überhaupt losgegangen ist. Und ein Tesla – aber lassen wir das.
Und warum auf den Karten selten menschliche Figuren zu sehen sind, versteht sich von selbst.