Kultur

Warum Machtmissbrauch im Turnen nicht besser bekämpft wird | ABC-Z

Autorinnen der Klagen sind ihre ehemaligen Athletinnen. Sie berichten von Machtmissbrauch am Bundesstützpunkt in Stuttgart, den sie als Kinder und Jugendliche dort erlebt haben. Bislang hat sich ein gutes Dutzend von ihnen gemeldet. Es sind nicht die ersten Hilferufe. Diesmal allerdings öffentliche Posts, Weihnachtsbotschaften.

Die Betroffenheit erstaunt. Michelle Timm, ehemalige Turnerin in Stuttgart und mittlerweile als Trainerin des männlichen Nachwuchses in der gleichen Halle tätig, schreibt am 29. Dezember, sie habe dem DTB „vor über zwei Monaten“ von den „katastrophalen Zuständen“ berichtet und zwei Trainer namentlich als „untragbar“ bezeichnet. Der DTB erklärt auf Frage der F.A.S., die ersten anonymen Meldungen zu Vorwürfen in Stuttgart hätten ihn „im Juli 2024“ erreicht.

Dachverband fehlte Durchgriffschance

Zu dem Zeitpunkt lag der Brief von Tabea Alt, Olympiateilnehmerin 2016 und heute Studentin der Medizin, dem DTB drei Jahre vor. In dem langen Brief, wie sie im Dezember schreibt, habe sie die erlebten Missstände mit dem Ziel benannt, junge Talente zu schützen. Intern wurde über den Brief in den vergangenen Jahren viel gesprochen. Zu den aktuellen Anschuldigungen sagt eine Trainerin, die bis 2021 am Bundesstützpunkt tätig war, der F.A.S.: „Die waren in großen Teilen klar, um die wusste man intern.“

2021 war das Jahr des großen Aufbruchs im DTB. Der Dachverband des deutschen Turnsports legte vor vier Jahren ein Projekt mit dem Titel „Leistung mit Respekt“ auf. Er rief einen Kultur- und Strukturwandel aus. Wohl nie zuvor hatte ein Fachverband ein so umfassendes Projekt zum Wohle seiner Athleten aufgesetzt. Dies sei notwendig, weil „nicht einzelne Personen, sondern mehrere Personen, ein System (Verband, Verein) als Ganzes (…) Gewalt möglich“ machten.

Die Forderung nach der Anhebung des Startalters von 16 auf 18 Jahre bei internationalen Wettkämpfen wurde ebenso aufgestellt wie strukturelle Maßnahmen an Bundesstützpunkten in Aussicht gestellt. In zahlreichen Arbeitsgruppen definierten Haupt- und Ehrenamtliche Ziele, erarbeiteten zum Beispiel ein Trainerleitbild und brachten ein Verfahren zum Lizenzentzug auf den Weg.

Kathrin Staufenbiel, bis 2023 Referentin in der Abteilung Olympischer Spitzensport des DTB und Mitglied der Prozessleitung „Leistung mit Respekt“, ist überzeugt, dass sehr viel getan wurde. Sie glaubt aber auch, „dass teilweise sehr harte, schmerzhafte Entscheidungen nicht getroffen wurden“.

Dass nun einzelne Trainer in der Kritik stehen, kommentiert sie so: „Ich würde sagen, dass sie ja Vorgesetzte haben. Es ist immer schwierig, die Trainerinnen und Trainer alleine an den Pranger zu stellen. Da muss erkannt werden, dass es um einen Kulturwandel und das Gesamtsystem geht. Dann vielleicht nur zu zehn Prozent durchblicken zu lassen: ,So zentral ist dieses Projekt nun auch nicht.‘ Dann haben wir 90 Prozent Leistung mit Respekt und zehn Prozent à la: ,Wie auch immer ihr es macht, Hauptsache, es wird erfolgreich.‘“

Im Fokus: die einstige Spitzenturnerin Tabea Altdpa

So könnte es gelaufen sein. Mitten in den Prozess „Leistung mit Respekt“ platzte das Dossier von Tabea Alt mit detaillierten Angaben und Trainernamen. Nach Informationen der F.A.S. kamen im DTB Führungskräfte – erschrocken – zu der Einsicht, dass im Fall Stuttgart auch konkret gehandelt werden sollte: mit der Entlassung wenigstens einer Trainerpersönlichkeit.

Aber dem Dachverband fehlte die Durchgriffschance, weil er nicht der Arbeitgeber war. Die Sache verblieb beim Schwäbischen Turnerbund. Es kam zu anderen Maßnahmen. Es wurde etwa ein System eingeführt, mit dem die Turnerinnen ihre Belastung für eine bessere Steuerung dokumentieren konnten. Nur zur Trennung kam es nicht.

Auf die Frage der F.A.S., ob zwei bestimmte Übungsleiter nach den nun veröffentlichten Vorwürfen suspendiert worden seien, antwortete der Bundesstützpunkt Kunstturnen Stuttgart so: Er könne „aus rechtlichen Gründen keine Auskunft geben“. Auf die Frage, ob eine der beiden Personen schon einmal vorübergehend suspendiert worden sei, gab es dieselbe Antwort. Die möglicherweise Betroffenen reagierten nicht. Wir wissen nicht, was stimmt. Sicher ist, dass ein Personalproblem vor vier Jahren diskutiert, aber vielleicht auch hier eine schmerzhafte Entscheidung nicht getroffen wurde.

Warum gab es in Chemnitz eine Lösung?

Der DTB war schon mutiger. Pauline Schäfer-Betz und weitere Turnerinnen hatten ihre Erfahrungen mit Cheftrainerin Gabriele Frehse in Chemnitz Ende 2020 geschildert: Training mit Verletzungen, Medikamentenvergaben, Beschimpfungen und Psychoterror. Im Sommer zuvor hatte sich eine große internationale Bewegung (#gymnastAlliance) formiert, in der Hunderte Turnerinnen ähnliche Erlebnisse schilderten.

Pauline Schäfer-Betz hatte bereits 2018 intern auf Missstände aufmerksam gemacht. In der Causa Chemnitz handelte der DTB konsequent, setzte sich durch, obwohl er auch in diesem Fall nicht der Arbeitgeber der Trainerin war. Gabriele Frehse musste Chemnitz verlassen, wurde Nationaltrainerin Österreichs. Warum kam es in Chemnitz zu einer Lösung, andernorts aber nicht?

Beim Schwäbischen Turnerbund werden seit vielen Jahren Spitzenleistungen produziert: im Nationalmannschaftszen­trum der Rhythmischen Sportgymnastik in Schmiden, wo Olympiasiegerin Darja Varfolomeev übt, und im Turnstützpunkt in Bad Cannstatt. Das größte Talent, Helen Kevric, die bei den Olympischen Spielen in Paris unter Anleitung ihres Heimtrainers Giacomo Camiciotti das beste Ergebnis seit Jahrzehnten erturnte (Achte im Mehrkampf), wird im Kunstturnforum ausgebildet. Die Bedingungen in Bad Cannstatt und dem Internat gelten als hervorragend. Die Sportliche Leitung obliegt Bundesstützpunkttrainerin Marie-Luise Mai. Das Kunstturnforum gilt als attraktivster Standort im deutschen Frauenturnen.

Hier trainieren die Besten: das Kunstturnforum in Stuttgart-Bad-Cannstatt
Hier trainieren die Besten: das Kunstturnforum in Stuttgart-Bad-Cannstattpicture alliance / Pressefoto Baumann

Ghazal Seilsepour, Traumberuf Turntrainerin, war gerade 18 Jahre alt, als sie sich in Stuttgart um ein Praktikum bewarb. Am Anfang wohnte sie im Turninternat, war nicht selten von 7.15 Uhr bis 20.00 Uhr in der Halle. Sie habe jede Minute geliebt, an der Seite eines älteren Trainerkollegen mit ihrer ersten Trainingsgruppe – die Jahrgänge 2007 bis 2009 – viel gelernt und zu Beginn „viel Unterstützung“ erfahren, sagt sie heute.

Mit einem Stipendium des DTB ging Seilsepour an die Kölner Trainerakademie. 2020 erhielt sie in Stuttgart einen auf ein Jahr befristeten Vertrag als Landestrainerin. Der interne Druck stieg. „Es wurde gesagt, die und die müssen in den und den Kader und du musst dein Studium gut zu Ende bringen und beweisen, dass du am besten deutschen Stützpunkt richtig bist.“

Seilsepour beendete ihr Studium mit Bravour, alle Mädchen ihrer Trainingsgruppe schafften es in den Kader. Doch nicht allen in Stuttgart war recht, wie sie vorging: „Hör auf, die Kinder ständig in den Arm zu nehmen, du erziehst die zu Weicheiern“, habe man ihr geraten, während sie überzeugt ist, dass „kleine Kinder manchmal eine Umarmung brauchen“. Da Weinen in der Halle verpönt gewesen sei, habe sie auch schon mal ein Kind, dem aus Enttäuschung die Tränen kamen, vorsorglich kurz zum Gesichtwaschen in die Umkleide geschickt, damit es „keinen Anschiss von der anderen Hallenseite kriegt“.

„Nur die Spitze des Eisbergs“

Zu einem bestimmten Zeitpunkt hörten dann relativ viele junge Turnerinnen gleichzeitig auf. Damals habe sie angefangen, die Dinge zu hinterfragen, sagt Seilsepour. In einem ruhigen Moment habe sie der Trainerin gesagt, sie mache sich große Sorgen um ein Mädchen: „Sie sieht nicht gut aus, ich glaube, wir müssen mehr nach ihr schauen.“ Die Antwort: „Ich solle aufhören, Mutter Teresa zu spielen, mich bloß raushalten, das Kind hätte kein Problem.“

Danach sei sie tagelang geschnitten worden. Für ein Gespräch mit den Verantwortlichen des Bundesstützpunktes habe sie sich vorgenommen, die Missstände anzusprechen. Dazu kam es nicht. Ghazal Seilsepour wurde mitgeteilt, ihr Vertrag würde nicht verlängert. Mit Verweis auf „rechtliche Gründe“ will sich der Bundesstützpunkt zu den Gründen nicht äußern.

Für die von den früheren Turnerinnen beschriebenen Fälle, in denen Leistung leider ohne Respekt zustande kam, hat der Verband kaum eine Handhabe. Egal ob es das Trainerleitbild oder die im vergangenen Oktober veröffentlichten „Verhaltensregeln“ sind, die die Beteiligten unterzeichnet haben. Klare Sanktionen im Falle eines Verstoßes sind nicht vorgesehen.

Die promovierte Psychologin Kathrin Staufenbiel sagt: „Führung und Rahmenbedingungen und damit auch eventuelle Sanktionen sind sehr wichtig. Zum Beispiel, dass Trainerinnen und Trainer nicht nur nach Medaillen und Erfolgen bewertet werden, sondern auch danach, wie respektvoll sie ihre Turnerinnen führen.“

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Für diesen Kulturwandel braucht der DTB nicht nur Durchsetzungskraft, sondern auch Geld. Einige der im Zuge des „Leistung mit Respekt“-Projekts formulierten Zielsetzungen scheiterten an fehlenden Mitteln. Eine eingerichtete Referentenstelle kann, dessen ist sich auch der Vorstand des DTB bewusst, die anfallende Arbeit nicht bewältigen. „Wir bräuchten deutlich mehr Ressourcen“, räumte Generalsekretär Kalle Zinnkann vor einem Jahr gegenüber der F.A.Z. ein.

Der DTB aber muss sparen. Im Finanzbericht zum Deutschen Turntag im November 2024 heißt es: „Wir haben bereits eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, um den Kostensteigerungen entgegenzuwirken, müssen aber auch eingestehen, dass dies nicht ausreicht.“ Eine angestrebte Beitragserhöhung um zwölf Cent pro Mitglied lehnten die Landesturnverbände ab, es wurden drei. Wie damit der verabschiedete Safe Sport Codex, das Dekadenprojekt des deutschen Sports zum Schutz von Athleten, finanziert werden soll, ist ein Rätsel.

Konsequenz lassen die Turner dort vermissen, wo Schutz schnell einzuführen wäre. Obwohl DTB-Präsident Alfons Hölzl offiziell für eine Heraufsetzung des Wettkampfalters plädiert, wagt der DTB keinen Alleingang auf internationalem Parkett. Dabei sind Experten sich einig. Den Turnerinnen würde es helfen.

Auch Ghazal Seilsepour ist überzeugt, dass 20 Trainingsstunden für neunjährige Grundschulkinder, wie teilweise in Stuttgart zu ihrer Zeit praktiziert, zu viel sind. „Wir machen Kindern Probleme, die keine Probleme haben sollten.“ Auch Bundestrainer Gerben Wiersma ist grundsätzlich für eine Altersanhebung. Nach Paris entsandte man der höchsten Erfolgsaussichten wegen die 16-jährige Helen Kevric.

Ghazal Seilsepour hat sich in den Schilderungen der ehemaligen Turnerinnen wiedergefunden. Auch sie habe Angst vor Konsequenzen gehabt. „Ich war als junge Erwachsene Teil des Systems, und ich habe mich ähnlich gefühlt, wie die Athletinnen es jetzt beschreiben. Ich habe immer gedacht, ich sei das Problem und ich muss noch mehr leisten und noch mehr über meine persönlichen Grenzen gehen.“

Dass sie den Weg zurück in eine Turnhalle fand, verdankt sie Bundesnachwuchstrainerin Claudia Schunk, die sie als Trainerin zu Lehrgängen einlud und ihr das Vertrauen in ihr Können zurückgab. Seilsepour ist zumindest mit Blick auf Stuttgart gewiss: „Die, die sich bis jetzt geäußert haben, sind nur die Spitze des Eisbergs.“

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