Warum es Davos mehr denn je braucht | ABC-Z
Macht ist, wenn man einer Veranstaltung seinen Stempel aufdrückt, ohne selbst vor Ort zu sein. Wenn an diesem Montag das 55. Weltwirtschaftsforum in den Schweizer Alpen beginnt, steht noch ein anderes Ereignis im Fokus, das am selben Kalendertag in Washington stattfindet: die zweite Amtseinführung von Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Frage, was die kommenden vier Jahre seiner Amtszeit für die Welt bedeuten werden, dürfte das Treffen in Davos beherrschen, zu dem 3000 Teilnehmer und damit so viele wie nie zuvor erwartet werden. Damit stellt sich wieder einmal die Frage nach Sinn und Zweck des Spektakels, zu dem Trump lediglich per Video zugeschaltet sein wird: Wozu das Ganze?
Die Liste der Kritikpunkte am Weltwirtschaftsforum, in der Schweiz nur WEF genannt, ist umfangreich und hat in jüngster Vergangenheit noch neue Nahrung von prominenter Stelle erhalten: Der scheidende US-Präsident Joe Biden hat in seiner Abschiedsrede vor einer „Oligarchie“ der amerikanischen Techmilliardäre gewarnt. Tatsächlich ist das WEF, 1971 als europäisches Managertreffen von Klaus Schwab ins Leben gerufen, schon seit Jahren amerikanisch dominiert. Fände es nicht in den Alpen, sondern in Colorado statt, würde das niemanden wundern. Und Microsoft-Gründer Bill Gates etwa, quasi der Urvater des Techtycoons, ist ein echter „Davos-Man“, der vom Format überzeugt ist und seit vielen Jahren anreist.
Die Vertriebsmaschine Davos
Schwab und Gates stehen ohnehin seit Langem im Zentrum vieler Verschwörungstheorien rund um Davos, von der Aneignung der Weltherrschaft bis zur Covid-Pandemie, hinter deren Inszenierung die Eliten aus Wirtschaft und Politik stecken sollen. Tatsache ist, dass die Veranstaltung von außen kaum zu durchschauen ist und damit Spekulationen Tür und Tor geöffnet sind.
Während jeder ordentliche UN-Gipfel zum Ziel hat, ein gemeinsames Vertragswerk zu verabschieden, über dessen Qualität sich hernach trefflich streiten lässt, wird das Forum wohl auch diesmal ohne Eintrag in die Geschichtsbücher zu Ende gehen. Man trifft sich, redet und macht Geschäfte.
Denn Davos ist auch eine gewaltige Vertriebsmaschine. Neben dem offiziellen Treffen im Kongresscenter, das von dem als Stiftung organisierten Forum veranstaltet wird, hat sich entlang der geschlängelten Hauptstraße Promenade das Big Business fest etabliert. Hier werden Läden und Geschäfte für horrende Summen in siebenstelliger Höhe (sic!) an Konzerne vermittelt, die dort eine Woche lang Kunden hofieren. Hotels verdienen ebenso exorbitant wie private Zimmervermieter, die von der abgelegenen Lage des Graubündner Städtchens profitieren, weil sich Tageseinpendlern wenig Alternativen bieten. Und wer weiterhin geöffnet hat, macht die Rechnung natürlich nicht ohne die shoppenden Begleiter („spouse“) der Konferenzteilnehmer.
Frühindikator für globale Trends
All das kann man kritisieren, doch geht es letztlich am Kern des Weltwirtschaftsforums vorbei. Denn nirgendwo sonst gibt es eine ähnliche Veranstaltung, wo sich Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft derart offen begegnen. Die Schweiz mit ihrem Nimbus der Neutralität mag dafür ein guter Ort sein. Wie man heute weiß, führte der Begriff vom „Ende der Geschichte“ (Fukuyama) nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in die Irre. Statt in einer unipolaren befinden wir uns längst in einer multipolaren Welt wieder, in der Ideen und Strömungen reüssieren, die in den vergangenen Dekaden nicht salonfähig gewesen wären.
Das Treffen in Davos ist nach wie vor ein Frühindikator für globale Trends. Hier läutete Greta Thunberg – heute im Palästinalager aktiv – 2019 mit ihrer Drohung an die Eliten („I want you to panic“) den Aufschwung der Umweltaktivisten ein. Und hier drückte sich auch die Gegenbewegung aus: Mit seinen Ansichten über liberale Demokratie, „radikalen Feminismus“ und die aus seiner Sicht grausame Umweltagenda löste der argentinische Präsident Javier Milei auf dem Forum 2024 unter einigen Zuhörern Skepsis, Kopfschütteln und teils Empörung aus. Dennoch skizzierte er damit zum Jahresanfang eine erstarkende Strömung, die in der Wiederwahl von Trump ihren Höhepunkt fand.
In einer zunehmend polarisierten Welt, in der sich Menschen in Onlinefilterblasen ihre Meinung bestärken lassen und das Zuhören verlernen, sind Stätten der persönlichen Begegnungen umso wichtiger geworden. Das Weltwirtschaftsforum ist nicht perfekt, aber eine bessere Alternative existiert bislang nicht. Gäbe es das Forum nicht, müsste man es gerade in diesen Zeiten neu erfinden.