Warum Deutschland eine Professur für Suizidprävention braucht |ABC-Z

Es sind nur wenige Zuhörer, die sich an einem Mittwochnachmittag im Juli zur Ringvorlesung „Ethik in der Medizin“ der Frankfurter Goethe-Universität in einem dunklen Seminarraum eingefunden haben. Das könnte am Sonnenschein liegen oder auch am angekündigten Thema. „Suizidologische Anmerkungen zur Debatte um den assistierten Suizid“ steht auf der ersten Folie einer an die Wand geworfenen Präsentation.
Schwere Kost, fraglos. Doch die Rednerin, die kurz zuvor als „neues Mitglied der Frankfurter Universitätsmedizin“ angekündigt worden ist, macht es dem Publikum einfach: Sie spricht so kenntnisreich wie verständlich, so tiefsinnig wie unterhaltsam.
Seit einem Dreivierteljahr hält Ute Lewitzka ständig irgendwo einen Vortrag, stellt sich vor, putzt Klinken, häufig in Frankfurt, aber auch sonst wo in der Republik. Ihre Mission: über Suizide aufklären und für Suizidprävention werben – keine neue Aufgabe für die 53 Jahre alte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Doch ihr Hebel ist jetzt ein anderer. Seit November 2024 ist sie die deutschlandweit erste Professorin für Suizidologie und Suizidprävention.
„Das habe ich total unterschätzt“
Eine Woche nach ihrem Vortrag im Frankfurter Seminarraum sitzt Ute Lewitzka einen Kilometer Luftlinie entfernt in ihrem kleinen Büro, das sich im Erdgeschoss der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universitätsmedizin Frankfurt befindet. Sie habe es noch nicht geschafft, Kunst an die weißen Wände zu bringen, sagt Lewitzka entschuldigend.
Das Interesse der Medien sei enorm gewesen in den Monaten seit Antritt der Professur, die die Goethe-Universität mit Unterstützung dreier Stiftungen initiiert hat. „Das habe ich total unterschätzt“, sagt die Frau, die ihren Lebensmittelpunkt für mehr als 30 Jahre in Dresden hatte, abgesehen von einem zweijährigen Forschungsaufenthalt in Kanada Anfang der Zehnerjahre. Nun lebt sie unter der Woche in Frankfurt, im für Dresdener Verhältnisse äußerst multikulturellen Gallusviertel.
Die Psychiaterin hat zwei Lebensthemen
Ihr Ehemann, Manager in einem großen Unternehmen, arbeitet in München, doch Dresden wird vorerst die Homebase bleiben. Beide Töchter sind noch dort; die eine ist gerade fertig mit der Schule, die andere selbst schon Mutter. Die ältere Tochter brachte Lewitzka zwei Wochen vor dem zweiten Staatsexamen zur Welt, war eine Weile alleinerziehend, bis sie ihren Mann kennenlernte. Auf ihrem Schreibtisch in Frankfurt zeigt ein gerahmtes Foto die Familie, daneben Postkarten. Auf der einen steht in weißen Lettern: „Das Leben hat keinen Sinn“; das k ist rot durchgestrichen. Auf der anderen prangt: „Wenn ich groß bin, werde ich wichtig.“
Beide Karten passen zu Ute Lewitzka. Die eine beschreibt das Lebensthema der Psychiaterin: die Beschäftigung mit Selbsttötungen, warum sie geschehen und wie man sie verhindern kann. Im Jahr 2023 beendeten 10.300 Menschen ihr Leben auf diesem Weg; hinzu kommt wohl, wie neueste Forschung zeigt, das bis zu Fünfzigfache an Suizidversuchen. Im Vergleich: Die Zahl der Verkehrstoten lag im selben Jahr bei 2839.
„Eine freundliche Distanz zu suizidalem Verhalten“
Schon ihre Doktorarbeit schrieb Lewitzka am Ende des Medizinstudiums am Uniklinikum Dresden über die Veränderung von Neurotransmittern bei suizidalen Personen. 2018 habilitierte sie dann über den Einfluss von Lithium auf Suizidalität und affektive Störungen – eine Frage, die sie in zwei hochkomplex aufgebauten Studien „unfassbar“ beschäftigte. In ihrer Laufbahn als Oberärztin hat sie sehr viele Patienten behandelt, zudem als Wissenschaftlerin zahlreiche Projekte initiiert: zuletzt ein Programm, das Aufklärungsarbeit an Schulen in Sachsen betreibt.
Doktoranden ermutigte sie, sich mit Fragen rund um Selbsttötungen zu befassen, beispielsweise dem Suizidverhalten von Ärzten. 2019 veröffentlichte sie als Hauptautorin eine international viel beachtete Arbeit, in der in einem aufwendigen Verfahren vier Länder mit Suizidpräventionsstrategie mit vier Ländern ohne Strategie verglichen wurden. Und in ihrer Freizeit engagiert sie sich ehrenamtlich für Suizidforschung und Prävention, unter anderem am von ihr mitgegründeten und geleiteten Werner-Felber-Institut in Dresden sowie als Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. „Mein Beruf ist auch mein Hobby“, sagt die Psychiaterin.
Die andere Postkarte steht für die Person Ute Lewitzka. Sie ist lebenbejahend, neugierig, zugänglich, unprätentiös und hat Humor. Ihr Mentor Werner Felber, nach dem das Dresdner Institut benannt ist, sagt, sie habe „eine freundliche Distanz zu suizidalem Verhalten“. Diese Persönlichkeitseigenschaft sei wichtig, um sich nicht zu sehr in Beschlag nehmen zu lassen von Belastung und Frustration, die der Umgang mit Suizidgefährdeten, mit Patienten nach Suizidversuchen und mit Angehörigen nach erfolgten Suiziden mit sich bringen. Auch Lewitzka selbst sagt, sie könne sich gut abgrenzen. Beim Gottesdienst in Dresden, der jährlich zur Erinnerung an die Suizidopfer der vergangenen Monate abgehalten wird, heule sie trotzdem jedes Mal wie ein Schlosshund.
Dass sich die Medizinstudentin Ute Lewitzka dem tabuisierten und stigmatisierten Thema zuwandte, ist ein Stück weit Zufall. Außer einer Nachbarin, die sich während Lewitzkas Kindheit das Leben nahm, hatte sie bis in ihr Erwachsenenalter hinein keinen persönlichen Bezug zu Suizid. An der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden traf sie dann den besagten Werner Felber. Felber hatte schon zu DDR-Zeiten in Dresden Patienten behandelt und zu Suizidalität geforscht, konnte seine wissenschaftlichen Erkenntnisse jedoch nie breiter publizieren.
Es war eine dieser Widersprüchlichkeiten des DDR-Regimes: Auf der einen Seite war untersagt, Daten über Suizide zu veröffentlichen; speziell eine Kommunikation der Zahlen war verboten, denn diese hätten ergeben, dass die Suizide in der DDR weit über dem europäischen Durchschnitt lagen. Auf der anderen Seite ließ der Staat es zu, dass 1967 in Dresden die in ganz Deutschland erste Anlaufstelle für Menschen in suizidalen Krisen und nach einem Suizidversuch eröffnet wurde, der sogenannte Suicidgefährdeten-Fürsorgeberatungsdienst. Von Mitte der Siebzigerjahre an leitete Felber diesen Dienst; von Ende der Neunzigerjahre an für eine Zeit lang auch die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie.
Eine Kindheit unter schwierigen Entwicklungsbedingungen
Weniger Zufall war es indes, dass sich Ute Lewitzka während ihres 1991 begonnenen Medizinstudiums eher den seelischen Leiden als den körperlichen zuwandte. Sie sagt, sie kenne kaum einen Psychiater, der unbeschwert aufgewachsen sei. Sie selbst wurde unter, wie sie es nennt, schwierigen Entwicklungsbedingungen groß. 1972 in Peitz geboren, ging ihre Mutter, wie in der DDR überwiegend üblich, sechs Wochen nach der Geburt wieder Vollzeit arbeiten; das Baby kam in die Kinderkrippe und war strengen kollektiven Regeln unterworfen. Eine stete Bezugsperson, die – so lehren es Bindungsforschung und Entwicklungspsychologie – so wichtig ist, hatte Lewitzka nicht. „Das gehört mit zu meiner Biographie“, konstatiert sie nüchtern.
Als sie sechs Jahre alt war, ließen sich die Eltern, Elektriker und Ökonomin, scheiden. Sie zog mit der Mutter und der sieben Jahre älteren Schwester aufs Dorf zum Stiefvater. „Eine sehr schwierige und in der Rückschau arme Zeit“, sagt sie, der sie versuchte, durch Lesen und durchs Draußensein zu entkommen. „Ich bin raus in die Natur, meistens zu einem Bauern, weil ich eine Pferdenärrin war.“
In der Selbsterfahrung, die man als angehender Psychiater in der Facharztausbildung macht, um persönliche Erlebnisse und Muster in Bezug zur therapeutischen Tätigkeit zu setzen, registrierte sie: Überdurchschnittlich viele, die keine einfache Kindheit hatten, wählten das Fach Psychiatrie. Für Lewitzka eine Stärke: „Wenn du weißt, wo dein blinder Fleck ist, schafft das eine andere Verständnisebene mit den Patienten.“
Zu Patienten hat sie seit Antritt ihrer Professur, ganz anders als in den vergangenen 25 Jahren, keinen Kontakt, aber schon Ideen im Kopf, wie sich das verändern ließe. Denn: „Grundsätzlich bin ich eine bodenständige, praktische Klinikerin“, sagt Lewitzka. An der neuen Wirkungsstätte ging es ihr im ersten Jahr jedoch darum, sich einzufinden in neue Strukturen, Vorträge zu halten – und sich zu vernetzen. Gerade dieser Punkt ist der Psychiaterin sehr wichtig, innerhalb des universitären Betriebs, aber auch mit jenen Stellen, die vor Ort bei Suiziden und Suizidversuchen aktiv werden, zum Beispiel den Notrufleitstellen. Bei solchen Kooperationen geht es ihr auch darum, an externe Daten zu gelangen, um diese wissenschaftlich auszuwerten – Lewitzka zufolge die Grundlage für wirksame Präventionsarbeit. Diese liegt der Professorin neben der Entstigmatisierung von psychischen Krankheiten und der Wissensvermittlung über Selbsttötungen ganz besonders am Herzen.
Selbsttötung ist meist keine freie Willensentscheidung
Auch deshalb kann sie sich in Rage reden, wenn sie erzählt, wie schwer sich Deutschland genau damit tut. Über die Jahre hat sie beispielsweise systematisch nachgewiesen, welche Wirkung bauliche Maßnahmen an sogenannten Hotspots haben, also Orten, an denen sich immer wieder Menschen töten. Eine ihrer beiden Mitarbeiterinnen, die ihr in Frankfurt zur Seite stehen, ist Katharina König, Deutschlands Spezialistin schlechthin für diesen Aspekt. Trotz der Erkenntnisse sei beispielsweise die Deutsche Bahn weiterhin nicht gewillt, die Stellen, an denen besonders häufig Suizide passierten, zu sichern, obgleich das durchaus möglich wäre, moniert Lewitzka.
Auf die Frage, woran das liegen könne, sagt sie: In Deutschland würden immer noch viele Menschen glauben, die Selbsttötung sei eine freie Willensentscheidung. Tatsächlich jedoch sei der Großteil der Suizidenten aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht in der Lage, seine Situation realistisch einzuschätzen und eine abgewogene und freiverantwortliche Entscheidung zu treffen. Das sei vielen nicht klar. Auch das Wissen darüber, wie dramatisch sich ein Suizid für Angehörige und Freunde anfühle und auswirke, sei gering.
Immerhin: Im vergangenen Jahrzehnt hat es der Expertin zufolge moderate Fortschritte gegeben. Noch vor fünf Jahren habe sie sich weder vorstellen können, dass sich Deutschland zu einer nationalen Suizidpräventionsstrategie durchringen könnte (vorgestellt wurde diese dann im Frühling 2024 unter dem damaligen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach), noch, dass alle Parteien ihre Unterstützung für ein Suizidpräventionsgesetz zusagen würden. In der konkreten Umsetzung des Gesetzes gibt es jedoch Streit, da eine der Hauptforderungen der Präventionsakteure – eine zentrale einheitliche Rufnummer für Suizidgefährdete – viel Geld kosten würde.
In den USA wurden für die Einführung und den Betrieb einer solchen Nummer fast 145 Millionen Dollar zwischen 2020 und 2022 in die Hand genommen. „Bei einer solchen Summe schlackern mir die Ohren“, sagt die Frau, die schon einmal einen Privatkredit beim eigenen Ehemann aufnahm, um ein Projekt am Werner-Felber-Institut zwischenzufinanzieren. Sie hofft, dass es ihr die neue Funktion ermöglicht, künftig mehr Einfluss auf solche Entscheidungen nehmen zu können.
Assistierten Suizid sieht sie kritisch
Als langfristiges Ziel der Professur nennt sie die Gründung eines Deutschen Zentrums für Suizidprävention. Kurzfristig möchte sie eine App launchen für Menschen mit Suizidgedanken. Zudem äußert sie sich momentan häufig zum assistierten Suizid. Dessen andauernde Deregulierung seit dem Verfassungsgerichtsurteil von 2020 hält sie für problematisch. Sie befürchtet negative Konsequenzen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, weil sich Menschen unter Druck gesetzt fühlen könnten, ihr Leben zu beenden, um anderen nicht zur Last zu fallen.
Gerade eben aber liegt ihr Fokus auf dem zweiten Septemberwochenende. Anlässlich des Welttages der Suizidprävention am 10. September sowie der Einrichtung ihrer Professur wird sie dann im Frankfurter Uniklinikum zu einem Symposium einladen, um mit Experten, aber auch der interessierten Öffentlichkeit über Prävention nachzudenken und ins Gespräch zu kommen.
Mit besonderer Begeisterung berichtet sie von einem Ereignis der vergangenen Monate. Auf einer Zugfahrt von Dresden nach Frankfurt erblickte Ute Lewitzka, enthusiastische Theaterbesucherin mit Vorliebe für Premieren, im Frühjahr ihr großes Schauspielidol Christian Friedel, den sie in vielen Inszenierungen am Dresdner Schauspiel gesehen hat. Einem breiten Publikum ist er aus Kinofilmen wie „Das weiße Band“ oder „The Zone of Interest“ bekannt. Sie fasste sich ein Herz und sprach ihn an. Sie erzählten sich, warum sie auf dem Weg nach Frankfurt waren, wobei sich herausstellte: Friedel war gerade dabei, im Schauspiel eine Regiearbeit einzustudieren, „Solaris“, in der ein Suizid Teil der Handlung ist.
Zwei Wochen später trat Lewitzka vor das Ensemble und sprach mit den Darstellern über die Fallstricke der künstlerischen Darstellung von Suizid. Auch das eine Form von Präventionsarbeit – und noch mal eine ganz andere Verquickung von Beruf und Hobby.