Warum der Kult um den Diktator zurückkehrt | ABC-Z

Moskau. Russland verklärt Stalins Rolle als Feldherr – und verdrängt seine Verbrechen. Kritiker warnen vor wachsender Geschichtsvergessenheit.
„Ich werde die Geschichten meiner Großmutter nie vergessen. Am Todestag Stalins herrschte in ihrer Familie eher Freude als Entmutigung“, erzählt der 44-jährige Alexandr unserer Redaktion. „Ihre Familie hat sehr unter dem Regime gelitten. Aber sie haben uns, den Enkeln, nicht viel davon erzählt. Erst in der Schule, in den 90er-Jahren, lernten wir im Geschichtsunterricht die Wahrheit von beiden Seiten kennen.“
Zwei Seiten der Wahrheit aus russischer Sicht: Die eine ist Josef Stalins Diktatur und Schreckensherrschaft in der Sowjetunion von 1927 bis 1953. Es gab Massenmorde, brutale Säuberungen, Arbeitslager, in denen politische Häftlinge zu Tode gehungert wurden. Millionen Menschen starben damals. Die andere aber ist Stalin als der große Feldherr. Der Sieg der Sowjetunion gegen die Nazis im Großen Vaterländischen Krieg, wie in Russland der Zweite Weltkrieg genannt wird. Gefeiert wird dieser Sieg alljährlich am 9. Mai mit der Parade auf dem Roten Platz. Mit zunehmendem Bezug auch auf den heutigen Krieg in der Ukraine. Laut Staatspropaganda geht es dort um „Entnazifizierung“. Auch in diesem Jahr waren Veteranen der Kämpfe in der Ostukraine mit dabei.
Stalins Comeback: Denkmäler, Namen, nationale Mythen
Russland huldigt neuerdings Stalin – unter Ausblendung der eigenen Geschichte. So hat Präsident Wladimir Putin, eigentlich kein Stalin-Anhänger, die Umbenennung des Flughafens der Stadt Wolgograd in „Stalingrad“ genehmigt. Damit soll an die Schlacht von Stalingrad, wie die Stadt an der Wolga zwischen 1925 und 1961 hieß, erinnert werden. Symbolisch, aber nicht dauerhaft, wurde Wolgograd im Juni also in „Stalingrad“ umbenannt. Neue Stalin-Denkmäler werden errichtet, jüngst auch in der Moskauer Metro.
Josef Stalin als Miniatur-Bronze-Figur.
© iStock | bruev
In der Station Taganskaja staunen die Menschen über die Nachbildung eines Reliefs, das den sowjetischen Diktator zeigt. „Dankbarkeit des Volkes gegenüber dem Führer und Kriegsherrn“ ist es benannt, das Original war Mitte der 1960er-Jahre im Zuge der Abkehr vom Stalinismus abgerissen worden. „In Moskau ist dies die erste derartige Wiederherstellung historischer Gerechtigkeit als Hommage an den Generalissimus“, jubelt Alexander Juschtschenko, Parlamentsabgeordneter der systemtreuen Kommunistischen Partei.
Verdrängte Verbrechen: Kritik am neuen Stalin-Kult wächst
Kritiker werfen den heutigen Machthabern in Russland Geschichtsvergessenheit vor, beklagen Verhöhnung der Stalin-Opfer. Die liberale Oppositionspartei Jabloko meint, die Stadt Moskau missachte demonstrativ den Willen ihrer Bürger. „Wir halten es für inakzeptabel, Symbole, die mit der dunkelsten Periode in der Geschichte unseres Landes in Verbindung gebracht werden, wieder in den öffentlichen Raum zu bringen.“ Die Rückkehr der Symbole des Stalinismus nach Moskau sei eine Verspottung der Geschichte, eine Verhöhnung der Nachkommen der Unterdrückten und eine Schande für Moskau, sagt Maxim Kruglow von Jabloko.
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In Putins Russland wird die eine Seite des Sowjet-Diktators verherrlicht, die andere aber unterdrückt. Die Organisation „Memorial“, gegründet 1989, war quasi das historische Gewissen der postsowjetischen Welt. Seit 2021 ist sie in Russland verboten. „Memorial“ war immer unbequem. Ob der Tschetschenien-Krieg, oder heute Menschenrechtsverletzungen in Russland und die Kämpfe in der Ukraine, die Organisation mischte sich ein und war den Machthabern, damals in der Sowjetunion und heute in Russland, immer ein Dorn im Auge. Über 60.000 Akten aus der Stalinzeit katalogisierte „Memorial“. Das Archiv war die wichtigste und oft einzige Quelle für Angehörige von Opfern der Stalinzeit, die genaueres über deren Schicksal erfahren wollten. 2022 erhielt die Organisation dafür und für ihr gesellschaftspolitisches Engagement den Friedensnobelpreis.
Stalin als Held? Wie die Erinnerung die Realität verdrängt
Wie aber denken die Russinnen und Russen über Stalin? Jüngst befragte das Netzportal „VFokuse Mail“ 22.000 Menschen aus 50 Regionen des Landes. Sicher keine repräsentative Umfrage, der Trend aber dürfte stimmen. 60 Prozent der Befragten halten Stalin „für einen herausragenden oder bedeutenden Staatsmann“. Nur 29 Prozent betrachten ihn eher kritisch. Und neue Stalin-Denkmäler? 46 Prozent der Befragten finden die Idee gut, 32 Prozent lehnen die Errichtung neuer Denkmäler ab. Gemäß der Umfrage befürworten allerdings 85 Prozent der Menschen den Erhalt der bestehenden Stalin-Monumente. Sie würden „von der Mehrheit nicht als Relikt der Vergangenheit wahrgenommen, sondern als bedeutender Bestandteil des historischen Erbes“, so „VFokuse Mail“.
Mangelndes Geschichtsbewusstsein in Russland
Das autokratisch geprägte Russland unter Putin ist sicherlich nicht vergleichbar mit der Diktatur Stalins in der Sowjetunion. Allerdings prägen die Denkmuster von damals noch heute vor allem die älteren Menschen in Russland. „Stalin ist eine Person, die vor allem mit einem großen psychischen Trauma verbunden ist, das seine Herrschaft verursacht hat“, meint der Soziologe Alexej Roschin. „Diese Atmosphäre der Angst, die Atmosphäre ständiger Repression – daran erinnern sich die Menschen noch heute. Selbst diejenigen, die behaupten, nichts davon mitbekommen zu haben, haben ihre Erlebnisse höchstwahrscheinlich einfach verdrängt.“
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Mangelndes Geschichtsbewusstsein beklagt Alexandr gegenüber unserer Redaktion: „Heute stehen nur die Leistungen Stalins auf dem Podest. Daher ändert sich die Einstellung der jungen Generation. Das macht mir persönlich Sorge, weil die Objektivität gegenüber historischen Ereignissen verloren geht.“