Wahnsinn als Methode: Wie Dan Campbell die Detroit Lions zum aufregendsten Team der NFL macht – Sport | ABC-Z
Über kaum eine andere Sache debattieren amerikanische Sportfans derzeit so leidenschaftlich wie über die Größe der Testikel von Dan Campbell, dem Trainer der Detroit Lions. Im metaphorischen Sinne versteht sich: Natürlich geht es darum, was Amerikaner „Big Set of Balls“ nennen, wenn sie voller Bewunderung über einen Sportler reden, der tut, woran andere nicht mal zu denken wagen.
Das Spitzenspiel am Sonntag gegen die Buffalo Bills war deshalb ein Vorgeschmack auf ein mögliches Super-Bowl-Duell – bei allem Respekt vor der Qualität der Kansas City Chiefs und deren Versuch, als erste Franchise in der Super-Bowl-Ära drei Titel nacheinander zu gewinnen. Der 48:42-Sieg der Bills war eine Football-Geschmacksexplosion, spektakulärer und spannender geht es wohl kaum. Und das hatte sehr viel damit zu tun, welche Entscheidungen Campbell währenddessen traf und wie sein Gegenpart Sean McDermont darauf reagierte.
Der Deutsche Amon-Ra St. Brown ist fast immer dabei, wenn es in der Lions-Offensive wild wird
Ein paar Beispiele, an denen jedes Mal der Lions-Passempfänger mit der Deutschland-Flagge auf dem Helm beteiligt war: Ein Trickspielzug im ersten Viertel, an dessen Ende Quarterback Jared Goff für 22 Yards Raumgewinn auf Amon-Ra St. Brown wirft. Ein mutiger Spielzug in fast aussichtsloser Position zu Beginn der zweiten Halbzeit, der in einen 66-Yard-Touchdown-Pass von Goff auf St. Brown mündet. Der Strategiekniff gegen Ende des Spiels, bei dem St. Brown einen Pass von Goff fängt – den Ball aber weitergibt an Kollege Jahmyr Gibbs, der weitere 21 Yards Raumgewinn schafft.
Der Deutsch-Amerikaner St. Brown, 25, ist fast immer dabei, wenn es wild wird in der Offensive der Lions; die grandiosen Statistiken sind deshalb fast Normalzustand: 14 gefangene Pässe, 193 Yards Raumgewinn, ein Touchdown; sein zehnter dieser Saison, der erst vierten seiner noch jungen Laufbahn.
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Die Lions sind das Team zum Zungenschnalzen dieser Saison, das mit den verrückten Spielzügen und der Immer-volles-Risiko-Strategie – und dem herrlich verrückten Gute-Laune-Bären Campbell an der Seitenlinie, bei dem man annehmen muss, dass sie den wunderbaren Fußballtrainer Ted Lasso aus der gleichnamigen Serie nach ihm gezeichnet haben. Er versteht seine Spieler und beschützt sie. Symbolisch dafür stand ein Moment in der Vorbereitung, in der er ein überraschendes Vollkontakt-Training ausrief und danach eine emotionale Rede hielt, aus der folgende Passage überliefert ist: „Studien zeigen, dass ihr vor Saisonbeginn diese intensiven Wiederholungen braucht. Ich habe einen Plan. Alles, woran ich denke, seid ihr, und wie ich euch das Bestmögliche ermöglichen kann. Ihr müsst mir nur vertrauen. Bitte!“
Campbell gilt als leidenschaftlicher Spielerversteher, der bei sämtlichen Strategie-Entscheidungen immer jene trifft, die auf der Risiko-Ertrag-Skala ganz oben rechts liegen. So was lässt sich bestens vermarkten, aber es stimmt nicht ganz. Denn Campbell sagte in seiner Rede an die Spieler nach dem Training auch: „Ich schwöre: Ich bin kein Wahnsinniger!“
Campbell hat das Football-Spiel reizvoller gemacht
Die Entscheidungen von Campbell kommen nicht aus dem Bauch, sondern aus dem Kopf, unter Zuhilfenahme von Statistik-Gurus mit KI-Rechnern. Es geht bei den Lions knallhart nach Wahrscheinlichkeit, zugeschnitten auf dieses Team, um das Beste zu ermöglichen. Das hat sich inzwischen herumgesprochen in der Liga: Plötzlich probieren nicht nur die Lions, beim vierten Versuch die Angriffsserie zu verlängern und nicht wie üblich den Ball zum Gegner zu treten, sondern auch die Bills am Sonntag. So schafften sie den Touchdown zum 21:7. Der Wahnsinn hat also Methode, ist statistisch belegbar und ein lohnendes Risiko für Teams, die sich das leisten können.
Dieses rentable Risiko führt zu mehr Spektakel. So ein Spielzug führt schließlich entweder zur Fortsetzung der Angriffsserie in besserer Position oder der Gegner übernimmt in deutlich besserer Ausgangslage als nach einem Punkt. Das wiederum führt zu mehr Punkten. Campbell hat also Football reizvoller gemacht. Und weil er das mit einer mittlerweile blind eingespielten Offensive tut, entsteht ein Spektakel im Quadrat.
Die Lions wirken wie eine extremere Version der Chiefs, die ebenfalls auf Risiko und Trickspielzüge setzen. Rechnet man die Bilanzen beider Teams zusammen, kommt man auf 25 Siege und drei Niederlagen. Die Bilanz der beiden gegen die Bills lautet indes: zwei Niederlagen.
Buffalos Offensive zerlegte regelrecht die Defensive der Lions, denen derzeit 13 Akteure verletzt fehlen, so wie sie kürzlich die Chiefs-Verteidigung (30:17) pulverisiert hatte. Keiner will gerade gegen die Bills spielen, wo der Wahnsinn ebenso Methode hat wie in Detroit und Kansas City. Und das sagt eine Menge darüber, was gerade erfolgreich ist im American Football.
„Das geht auf mich“, sagte Campbell nach der Partie: „Wir waren nicht bereit, wir waren nicht gut genug vorbereitet – und das ist mein Fehler.“ Er zählte ein paar Dinge auf, die der Gegner gut gemacht hatte und sagte auch, wie er es verpasst habe, adäquat zu reagieren: „Wir waren nicht auf dem Level der Bills, und da muss ich die Verantwortung dafür übernehmen. Es ist meine Aufgabe, meinen Jungs das Bestmögliche zu ermöglichen; das habe ich heute nicht.“ Und musste man ihn nicht dafür lieben?