Kultur

Marcel Ophüls: Er drehte, wie er Auto fuhr | ABC-Z

Als wir mit seinem zerdellten Audi A5 auf den Arc de Triomphe zufuhren, drückte Marcel Ophüls das Gaspedal durch. Einhändig steuernd überholte er mehrere Autos und schob eine CD von Im weißen Rössl in den Player. Überschwang lag in der Luft: “Ich hoffe, Sie sind nicht nur nach Paris gekommen, um alte Jiddengeschichten zu hören”, sagte er und schmetterte: “Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist.”

Ophüls drehte Dokumentarfilme, wie er Auto fuhr: furchtlos, unorthodox. Ausgehend von den NS-Verbrechen handeln seine Werke vom banal alltäglichen Umgang des Menschen mit seiner Verantwortung. Und von der Flucht davor. In The Memory of Justice, seinem Film über die Nachwirkungen der Nürnberger Prozesse, entlockt er dem ehemaligen Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine, Karl Dönitz, eine irrwitzige Behauptung: Er habe zur Reparatur von Kriegsschiffen Tausende Insassen von Konzentrationslagern angefordert, ohne zu wissen, was in Konzentrationslagern geschah. Geschichte wird vergegenwärtigt, im Dialog mit ihren Rädern und Rädchen, ihren Haupt- und scheinbaren Nebenfiguren.

Es ist die Kunst des Fragens, die seine Filme einzigartig macht, auch weil Ophüls immer wieder selbst persönlich auftritt: das harmlose Erkunden und wie beiläufige Nachhaken. Dann die blitzschnelle Konfrontation mit Fakten, das Lauern und plötzliche Zupacken. Es ist wiederum die kluge Montage, die monatelange Arbeit am Schneidetisch, die Ophüls’ Filme zu sich langsam ausweitenden Expeditionen mit offenem Ausgang werden lässt.

Vor allem in Frankreich zerstört Ophüls erinnerungspolitische Gemütlichkeiten. In Das Haus nebenan räumt er auf mit dem Mythos der flächendeckenden Résistance gegen die Nazis. Er dokumentiert Widerstand, sogar Heldentum, aber auch die Alltäglichkeit der Kollaboration, des Antisemitismus. Er beleuchtet ein bis dahin verdrängtes, aufgeladenes Thema: den in die Nachkriegszeit ragenden Konflikt zwischen dem konservativen und dem kommunistischen Widerstand. Charles de Gaulle, einst Résistance-Führer, verhinderte die Ausstrahlung des Films im französischen Fernsehen, erst 1981 konnte er gezeigt werden.

“Die Themen meiner Filme erzeugen automatisch schon eine Bedeutung, die mir etwas ungemütlich ist”, sagte Ophüls in Paris. “Eigentlich bedaure ich es, dass ich nicht in der Lage bin, Liebesfilme wie mein Vater zu drehen.” Durch diesen Vater, den großen Regisseur Max Ophüls (Der Reigen, Lola Montez), verliebte er sich ins Kino.

Als wir spazieren gingen, spielte Marcel Ophüls Filmszenen nach, legte mit Tippelschrittchen und Regenschirm Chaplin-Auftritte hin, lief wie Buster Keaton gegen Laternen. Auch in seinen Filmen machte er sich zum selbstironischen Darsteller und Conferencier. In Hotel Terminus, für den er 1989 den Oscar bekam, unterlegt er die Flucht des Nazi-Folterers Klaus Barbie nach Lateinamerika mit Muss i denn zum Städtele hinaus. Ophüls fährt zu Fred-Astaire-Songs an den Villen ehemaliger Nazis entlang. Er besucht einen ehemaligen SS-Mann, der sich vor der Kamera in seinem Haus verschanzt, und dringt in dessen Gemüsegarten vor. “Hallo, hallo!”, ruft Ophüls und schaut unter Kohlblätter und in eine Zisterne: “Sind Sie da?”

Am vergangenen Samstag ist Marcel Ophüls im Alter von 97 Jahren in seinem Haus in Südfrankreich gestorben.

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