Politik

Wahl in Tunesien: Vor Diktator Kais Saied fühlt sich niemand mehr sicher | ABC-Z

Präsident Kais Saied hat die Demokratie in Tunesien zerstört, um eine Schreckensherrschaft zu errichten. Viele Tunesier fürchten ihn mehr als Diktator Ben Ali, den sie während der Arabischen Revolution stürzten. Die Präsidentschaftswahl am Sonntag wird eine Farce.

Die Demokratie in Tunesien war ein zartes Pflänzchen, gesät kurz nach dem Arabischen Frühling 2011. Innerhalb von nur drei Jahren hat Präsident Kais Saied es brutal zertreten. Eine demokratische Wahl hatte Saied 2019 ins Amt gebracht. Seit 2021 lässt er nichts unversucht, um eine Diktatur nach seinem Geschmack zu errichten. Saied rief im Land den Ausnahmezustand aus, löste das Parlament auf, schrieb eine neue Verfassung, ließ Kritiker inhaftieren und feuerte wiederholt seine Minister. Am Sonntag veranstaltet er eine Präsidentschaftswahl. Sie wird eine Farce.

Tunesien hat eine rege Zivilgesellschaft und ein facettenreiches Parteienspektrum. Das zeigt sich allein daran, dass ursprünglich 16 Kandidaten gegen Saied antreten wollten. Allerdings wurden 14 von der Wahl ausgeschlossen, einige landeten sogar im Gefängnis. Die Tunesier haben nun nur noch die Wahl zwischen Saied, seinem Vertrauten Zouhair Maghzaoui sowie Ayachi Zammel, einem bislang unbekannten Politiker, der die sozialliberale Partei Azimoun anführt.

Zammel hat Chancen, genügend Stimmen zu bekommen, um in einer Stichwahl gegen Saied anzutreten. Doch falls Zammel sie gewinnen sollte, könnte er das Präsidentschaftsamt nicht ausüben. Er sitzt im Gefängnis. Mitte September wurde Zammel zu 20 Monaten Haft wegen Unterschriftfälschung verurteilt. Er bestreitet die Betrugsvorwürfe, sein Anwalt bezeichnet sie als „Schikane“, die der Sozialliberale angesichts seiner Kandidatur bereits erwartet habe.

Zahl der NGOs in Tunesien auf ein Drittel reduziert

Erst vor wenigen Wochen tauschte Saied 19 Minister und 24 Gouverneure aus, denen er unter anderem die Schuld für die wirtschaftlichen Probleme im Land zuschob. Damit sandte er ein Signal der Abschreckung, vor allem an seine Kritiker. Auch die Mitarbeiter in den Ministerien fürchten inzwischen nicht nur um ihren Job, sondern auch um ihre Freiheit. Falls jemand von ihnen in Ungnade fällt, reicht der Name dieser Person in einem inkriminierenden Dossier aus, um sie hinter Gitter zu bringen. Im Gefängnis sitzen Menschen, die nicht wissen, warum sie eingesperrt wurden.

Andersdenkende werden mundtot gemacht, unabhängige Medien unterdrückt, zivilgesellschaftliche Organisationen gegängelt. Die Situation ist so schlimm, dass sich inzwischen viele Tunesier Ben Ali zurückwünschen – also den Diktator, den sie 2011 in der Arabischen Revolution stürzten. Unter Ben Ali gab es klar definierte rote Linien der Zensur. Tunesier wussten genau, was sie über den Diktator, seine Familie oder die Regierung sagen konnten, ohne Schwierigkeiten zu bekommen.

Unter Saied fehlen diese Regeln. Er setzt auf Intransparenz, was zur Selbstzensur führt, selbst bei renommierten internationalen Organisationen und Journalisten, die in Tunesien tätig sind. Deswegen wurde dieser Artikel anonym verfasst und auf Quellennachweise weitgehend verzichtet. Einst waren mehr als 10.000 Nichtregierungsorganisationen im Land. Unter der Herrschaft Saieds hat sich ihre Zahl jedoch bereits auf ein Drittel reduziert.

Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 40 Prozent

Organisationen aus dem Ausland sind Saied generell suspekt. Die von ihm propagierten Verschwörungstheorien basieren einerseits auf Rassismus und Antisemitismus, andererseits auf einer tiefen Skepsis gegenüber dem Westen. Saied vertritt die rechtspopulistische These, Europa verfalle moralisch, weil es teilweise die Rechte für ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten sichere. Populistisch ist auch sein Wahlversprechen, insgesamt 38 Milliarden Dollar, die von Ben Ali veruntreut und ins Ausland gebracht wurden, wieder zurückzuholen. Zu diesem Zweck gründete Saied eine Kommission, die bilateral mit den betroffenen Ländern, darunter Deutschland, verhandeln soll. Das Unterfangen gilt jedoch als aussichtslos – hauptsächlich angesichts der Tatsache, dass Saied und seine Gefolgsleute unentwegt gegen diese Staaten wettern. Statt Brücken zum Westen zu bauen, reißt Saied sie ein.

Die Zusammenarbeit mit Saied gestaltet sich so für die Europäische Union schwierig. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellte Saied im Herbst vergangenen Jahres 900 Millionen Euro im Rahmen eines Migrationsabkommens in Aussicht. Saied sollte für die EU Flüchtlingsboote abfangen, die von der tunesischen Küste ablegen. Doch der reagierte beleidigt. Er wolle keine „Almosen“, sagte er damals. Ein Großteil des Betrags wurde bis heute nicht an Tunesien ausgezahlt. Denn Saied weigert sich, eine Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu unterzeichnen, die von der EU eingefordert wird, bevor sie das Geld überweist.

Vermutlich pokert Saied, weil er mehr Geld will. Finanzspritzen könnte die tunesische Wirtschaft, die bereits seit Jahren darbt, gut gebrauchen. Die Inflationsrate liegt aktuell bei über sieben Prozent, während die Löhne nicht anziehen. Die Arbeitslosenquote wird offiziell mit 16 Prozent angegeben. Experten gehen jedoch von einem wesentlich höheren Prozentsatz aus. Die Jugendarbeitslosigkeit sehen sie auf einem Niveau von bis zu 40 Prozent.

Akademiker verlassen Tunesien massenhaft

Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betrug vergangenes Jahr 0,42 Prozent, dieses Jahr werden knapp 2 Prozent erwartet. Zum Vergleich: In den zwei Jahrzehnten vor der Arabischen Revolution wuchs das BIP meist zwischen 3 und 8 Prozent. Junge Akademiker verlassen das Land jetzt in Massen, insbesondere Ärzte ergreifen die Flucht.

Die Situation erinnert an die Ausgangslage der Arabischen Revolution damals: In der tunesischen Stadt Sidi Bouzid setzte sich Gemüsehändler Mohammed Bouazizi am 17. Dezember 2011 öffentlich selbst in Brand, weil ihm die wirtschaftliche Perspektive fehlte. Bouazizi hatte die Schikanen von Ben Alis Behörden, die ihm keine Lizenz erteilen wollten, satt. In sozialen Netzwerken versetzten die Bilder des brennenden 26-Jährigen die arabische Welt in Aufruhr. Zu spontanen Demonstrationen kam es in vielen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas. In Tunesien, Ägypten, Libyen und im Jemen wurden die autoritären Präsidenten gestürzt.

Während die Revolution in allen anderen Staaten schnell durch kosmetische Reformen erstickt wurde, hielt sich die Demokratie in Tunesien zumindest bis 2021. Obwohl das Land weiter unter Problemen wie Korruption litt, lebte die demokratische Idee dort ein Jahrzehnt lang weiter. Neben Gewaltenteilung und einer demokratischen Verfassung gab es Presse- sowie Meinungsfreiheit. Durch die demokratische Wahl des falschen Mannes wurde das alles wieder zunichtegemacht. Am Sonntag können die Tunesier zwar wählen gehen, aber sie haben keine Wahl mehr. Kais Saied, vor dem sich niemand sicher fühlt, wird ihr Präsident bleiben.

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