Vulnerable Stromnetze: „Wir müssen Resilienz von Anfang an mitdenken“ | ABC-Z

taz: Herr Blechinger, woran forschen Sie?
Philipp Blechinger: Ich beschäftige mich mit der deutschen Energiewende, mit Strom, Wärme und der Integration erneuerbarer Energien in die Netze, habe aber auch den internationalen Blick. Mich interessieren vor allem „Inselnetze“ – geografische Inseln, aber auch sogenannte Strominseln wie entlegene Dörfer, die sich energetisch selbst versorgen, oder Industrieparks.
taz: Was hatten Sie im Blick?
Blechinger: Im globalen Süden habe ich durch Forschungs- oder Beratungsprojekte viel in Nigeria gearbeitet, wo es ein großflächig ausgebautes Netz gibt, das aber sehr unzuverlässig funktioniert. Von dort kenne ich gut die Situation, dass man in einem Workshop sitzt, und plötzlich flackert das Licht, der Beamer geht aus, die Klimaanlage verabschiedet sich. Aber dann hört man im Hintergrund dieses „Wumm, wumm, wumm“: Überall werden die Dieselgeneratoren angeworfen, die kleinen in den Läden an der Straße und die großen in Büros oder Hotels. Nach ein paar Minuten ist alles wieder hochgefahren. Das war jetzt in Berlin natürlich anders.
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privat
Im Interview: Philipp Blechinger
Philipp Blechinger (41) ist Experte für dezentrale und Off-Grid-Energiesysteme. Am Reiner Lemoine Institut in Adlershof, das sich für eine Zukunft mit 100 Prozent erneuerbaren Energien einsetzt, leitet er den Bereich Off-Grid Systems. Seine Forschung umfasst Modellierung, Planung und soziale Dimension der Energietransformation, mit besonderem Fokus auf Energiegemeinschaften und entlegene, unterversorgte Regionen.
taz: Wie haben Sie den Blackout in Berlin erlebt?
Blechinger: Als ich vergangenen Dienstag ins Büro geradelt bin, hatte mich die Nachricht vom Stromausfall noch nicht erreicht. In Adlershof fielen mir nach und nach die ausgefallenen Ampeln auf, dann standen überall Leute vor den Gebäuden, die Läden waren dunkel. Ich bin trotzdem ins Büro gegangen, normalerweise dauert so was ja höchstens eine Stunde. Wir wurden aber nach und nach alle nach Hause geschickt. Spannend für mich war, dass vor unserem Bürogebäude irgendwann auch ein Dieselgenerator ansprang, also ein vertrautes Geräusch für mich. Der gehörte aber nur zum Supermarkt im Erdgeschoss. Ich nehme an, dass der damit seine Kühlung aufrechterhält.
taz: Die Saboteure, die den Stromausfall im Berliner Südosten hervorgerufen haben, wussten offenbar genau, was sie tun. Wie anfällig ist denn so ein Großstadtnetz generell?
Blechinger: Allzu konkret kann ich das nicht sagen, es handelt sich schließlich um ein Frage der Sicherheit. Mit dieser Begründung werden auch uns am Institut oft Netzdaten vorenthalten, die wir abfragen, um Planungen für Energiesysteme zu machen. Da ist natürlich auch was dran. Generell gilt: Es gibt Punkte im Netz, die man mit relativ geringem Aufwand und großer Wirkung stören kann.
taz: Welche sind das?
Blechinger: Unser Netz hat verschiedene Spannungsebenen. Ganz unten haben wir die Verteilnetze, an denen nicht allzu viele Abnehmer hängen. Wird der Übergang von der Mittelspannung zu einem solchen Verteilnetz gestört, erwischt es vielleicht wenige hundert bis einige tausend Haushalte. Dazu kommt, dass die Verteilnetze besonders im städtischen Raum eine hohe Redundanz haben, soll heißen: Wenn ein Teil des Netzes ausfällt, übernimmt ein anderes. Und dann gibt es vor allem in Städten das 110-kV-Netz, das ist die Schnittstelle zwischen der Hochspannungsebene und den städtischen Verteilnetzen. Die war Ziel dieses Anschlags.
taz: Und davon waren nicht nur ein paar tausend Menschen betroffen.
Blechinger: Am 110-kV-Netz hängen ungleich mehr Abnehmer. Es gibt außerdem weniger Redundanzen. Wenn jemand weiß, wo die Kabeltrassen verlaufen und die Umspannwerke stehen, kennt er die verwundbaren Punkte des Systems. Detailpläne sind nicht frei zugänglich, aber vieles lässt sich im Gelände oder in amtlichen Unterlagen nachvollziehen. Für präzise Angriffspunkte braucht es genaueres Wissen, wie spezifische Netzpläne. Aber es sind auch deutlich mehr als drei Leute in Deutschland, die so etwas wissen.
taz: Und die Folgen können dramatisch sein.
Blechinger: Auf jeden Fall. Als Zwischenfazit könnte man sagen: Wir haben keine Möglichkeit, unsere Netze hundertprozentig sicher zu machen. Diese kritische Infrastruktur ist nicht so leicht zu schützen. Deshalb muss man über Optionen nachdenken, wie man auf solche Ereignisse reagiert. Wir hatten im Institut gerade damit angefangen, über Konzepte nachzudenken, wie man Verteilnetze vom übergeordneten Netz abkoppelt und in den Inselbetrieb geht. Ironischerweise wurden wir jetzt von den Ereignissen überholt.
taz: Beschreiben Sie doch mal, was so ein Inselbetrieb ist.
Blechinger: Sie können sich das für ein Einfamilienhaus leicht vorstellen: Da kann ich mein eigenes Inselnetz mit einer Photovoltaik-Anlage auf dem Dach und einem Speicher im Keller herstellen. Fällt dann der Strom aus, kann ich mich in Maßen selbst versorgen. Voraussetzung ist, dass ich einen Schalter habe, um mein Haus vom Netz zu trennen, sonst schaltet sich die PV-Anlage aus Sicherheitsgründen ab.
taz: „In Maßen“ heißt?
Blechinger: An einem sonnigen Frühlingstag kann ich ohne Weiteres meinen Kühlschrank betreiben, und für die Kommunikation reicht es auch. Wenn es ein trüber Januartag ist und ich eine Wärmepumpe habe, wird es schon schwierig, dann reicht die Batterie vielleicht ein, zwei Stunden, bis ich im Kalten und Dunkeln sitze. Trotzdem gilt, dass ich auf Haushaltsebene die Resilienz gegenüber Stromausfällen erhöhen kann – und das gilt auch für ein ganzes Verteilnetz. Da bräuchte es ebenfalls Speicher in jedem Verteilnetz, am besten auch PV-Anlagen, vielleicht auch ein Blockheizkraftwerk.
taz: Aber auch da wäre je nach Jahreszeit und Wetter irgendwann Schluss.
Blechinger: Richtig, die Problematik ist dieselbe. Aber wie im Haushalts-Inselnetz, wo ich etwa aufs Kochen verzichten würde, damit die Wärmepumpe länger laufen kann, muss ich dann solche Entscheidungen für ein Verteilnetz treffen können. Dann braucht es Strategien, welche Abnehmer in einem Inselnetz privilegiert werden. Etwa bestimmte Schutzräume wie Schulen, in denen allgemeine Anlaufstellen eingerichtet werden, oder Altenheime, die vielleicht kein Notstromaggregat wie ein Krankenhaus haben. Ein weiterer Vorteil wäre, dass ich mit den einzelnen Strominseln gleichzeitig die Last im gesamten betroffenen System reduziere, wodurch es leichter wieder hochzufahren ist. Dafür bräuchte es aber die technische Infrastruktur und die rechtlichen und regulatorischen Voraussetzungen, die es ermöglichen, Verbraucher einzeln an- oder abzuschalten.
taz: Erhöht es die Resilienz, dass immer mehr Strom dezentral erzeugt wird?
Blechinger: Es kann einen positiven Effekt haben. Resilient sind wir dann, wenn wir Redundanz haben. Wenn etwa ein einzelnes großes Kraftwerk wegfällt, ist diese ganze Leistung weg. Auf der anderen Seite war man aus konservativer Sicht mit einer Ölheizung besser dran, denn solange der Tank voll ist, kommt man damit in jedem Fall über den Winter. Das ist ja das Narrativ, das vielen Angst macht: Vielleicht können wir nicht mehr heizen, weil alles Strom braucht! Aber mit guter Planung und den entsprechenden Speichern können wir auch ein dezentrales Stromsystem resilient machen. Die Anfälligkeiten zeigen sich gerade, weil wir mit der Energiewende erst auf halbem Weg sind.
taz: Hat die Stromnetz Berlin GmbH das Thema Resilienz nicht auf dem Schirm?
Blechinger: Ich kann das diesem konkreten Netzbetreiber nicht unterstellen. Aber man muss wissen, dass die Betreiber der Verteilnetzebene regulierte Monopolisten sind und über die sogenannte Anreizregulierung funktionieren.
taz: Was bedeutet das?
Blechinger: Dass sie gewisse Ausgaben geltend machen können, die dann aus den Netzentgelten refinanziert werden. Der regulatorische Rahmen sieht aber die Inselnetz-Fähigkeit bisher nicht ausdrücklich als vergütungsrelevante Maßnahme vor. Würden die jetzt – vereinfacht gesagt – an vielen Stellen Schalter einbauen, um das Netz inselfähig zu machen, bekämen sie das nicht bezahlt. Aktuell würde das auf reiner Freiwilligkeit basieren und wäre wohl ein Verlustgeschäft. Die Frage, wie man mit Stromausfällen einer solchen Größenordnung umgeht, ist im Moment kein entscheidendes Kriterium – man setzt stärker auf Effizienz und Kostenreduktion.
taz: Ändert sich das nun?
Blechinger: Es ist ein brennendes Thema: Im April hatten wir den landesweiten Stromausfall in Spanien, es gibt immer mehr Herausforderungen im Betrieb, die Netzkapazitäten werden nicht schnell genug ausgebaut, und wir haben durch den Klimawandel zunehmende Wetterextreme.
taz: Was müsste die Politik jetzt tun?
Blechinger: Sie muss definieren, was alles kritische Infrastruktur ist. Resilienz muss in der Gesamtplanung ein wichtiges Kriterium werden, da braucht es die entsprechende Regulierung und Anreize bei der Vergütung. In Berlin wollen wir vom Institut jetzt Kontakt zu den Katastrophenschutzbeauftragten aufnehmen und vorschlagen, das durchzurechnen und zu planen. Natürlich wollen wir nicht, dass jede Klinik drei Dieselgeneratoren bekommt, die Busse weiter mit Verbrennungsmotoren fahren und Wärme nur über Gas erzeugt wird. Wir wollen immer mehr Erneuerbare nutzen, Batteriespeicher ausbauen und beides schaffen: ein erneuerbares und resilientes Energiesystem.
taz: Stichwort Busse: Der BVG-Chef hat vor Kurzem in der taz gesagt, mit Blick auf Katastrophenszenarien wolle er eben nicht die komplette Flotte elektrifizieren.
Blechinger: Den Punkt, dass im Notfall vielleicht schnell 100.000 Leute irgendwohin evakuiert werden müssen, sehe ich. Aber den Widerspruch erkenne ich nicht. Wenn wir perspektivisch alle Busse elektrifizieren, bauen wir gleichzeitig eine völlig neue Ladeinfrastruktur auf. An vielen Betriebshöfen entstehen schon heute große Ladeanlagen, teils ergänzt um Batteriespeicher, die Lastspitzen abfedern. Wenn das einmal flächendeckend umgesetzt ist, haben wir eine ganz andere Ausgangslage: Im Krisenfall könnte diese Infrastruktur genutzt werden, um zumindest einen Teil der Flotte über einen gewissen Zeitraum weiterzubetreiben. Das ist kein garantierter 24-Stunden-Notbetrieb für alle Busse, sondern eher ein Hinweis, dass Elektromobilität auch Resilienzpotenziale mit sich bringt – wenn man sie von Anfang an mitdenkt.