Gesundheit

Vorurteile in der Medizin: Frauen müssen mehr Schmerzen aushalten als Männer |ABC-Z

Patientinnen werden anders behandelt als Männer. Dazu kommt eine aktuelle Studie. Der zufolge müssen Frauen in der Notaufnahme nicht nur länger warten, sie erhalten auch weniger oft Schmerzmittel. Experten erklären, woran das liegt – und wie sich das verändern ließe.

Frauen erhalten nach dem Aufsuchen der Notaufnahme seltener ein Rezept für Schmerzmittel als Männer – zumindest legt das eine Studie mit Daten aus den USA und Israel nahe. Auch wenn sie unter den gleichen Beschwerden litten. Für den geschlechtsspezifischen Unterschied spielt es offenbar auch keine Rolle, ob ein Arzt oder eine Ärztin behandelt. Die Ergebnisse wurden aktuell im Fachmagazin „PNAS“ veröffentlicht.

„Diese Unterbehandlung der Schmerzen weiblicher Patienten könnte schwerwiegende Folgen für die Gesundheit der Frauen haben und möglicherweise zu längeren Genesungszeiten, zu Komplikationen oder chronischen Schmerzzuständen führen“, erklärt Shoham Choshen-Hillel.

Die Professorin der Hebrew University of Jerusalem in Israel erforscht Entscheidungsprozesse in sozialen Kontexten sowie in Organisationen und leitete die aktuelle Studie, für die nahezu 22.000 elektronische Patientenakten aus Israel und den USA ausgewertet wurden.

Ob man die Erkenntnisse auf Deutschland übertragen könne, lasse sich wissenschaftlich nicht beantworten, sagt Felix Walcher, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). „Zur Medikamentengabe in Notaufnahmen – gar zu einer geschlechterspezifischen Medikation – erheben wir in Deutschland bislang keine Daten“, sagt Walcher, der seit 2014 Direktor der Klinik für Unfallchirurgie des Universitätsklinikums Magdeburg ist.

Choshen-Hillel und ihre Kollegen vermuten hinter den Ergebnissen ihrer Studie eine geschlechtsspezifische Verzerrung: „Es wird angenommen, dass Frauen ihre Schmerzen im Vergleich zu Männern übertrieben beschreiben“, führen sie aus. Dieses Vorurteil sei unter Männern wie Frauen im medizinischen Dienst weitverbreitet.

Ein weiterer Grund könnte den Forschern zufolge sein, dass Männer öfter nach Schmerzmitteln fragen als Frauen. Die israelische Forschergruppe fordert Schulungen für Klinikpersonal, um einer Unterversorgung von Frauen mit Schmerzmitteln entgegenzuwirken.

Längere Wartezeiten, weniger Nachfragen

Aus der Datenanalyse ergab sich, dass 38 Prozent der Frauen, die mit Schmerzen in die Notaufnahme kamen, eine Verschreibung für ein schmerzstillendes Medikament erhielten. Von den Männern hingegen waren es mehr, nämlich 47 Prozent.

Die geschlechtsspezifischen Unterschiede zeigten sich mit leichten Variationen bei leichten, mittelstarken und starken Schmerzen, die von den Patienten angegeben wurden. Alle Altersklassen waren in ähnlicher Weise von diesem Unterschied betroffen.

Auch zeigte sich, dass Frauen durchschnittlich 30 Minuten länger in der Notaufnahme auf eine Behandlung warten mussten als Männer. Hinzu kommt: „Wir haben festgestellt, dass Krankenschwestern Schmerzwerte für Frauen seltener erfassen als für Männer“, berichten die Studienautorinnen und -autoren. Die Stärke von Schmerzen wird zum Beispiel auf einer Skala von 1 bis 10 angegeben.

Obwohl medizinische Richtlinien vorsehen, dass alle mit starken Schmerzen ein Schmerzmittel erhalten sollen, war dies laut den Akten aus Israel nur bei 50 Prozent der Patientinnen und 59 Prozent der Patienten der Fall. Die Analyse der amerikanischen Daten bestätigte diese Trends, wenn auch mit leicht unterschiedlichen Prozentwerten.

Die Forscher luden außerdem Ärzteschaft und Pflegepersonal des University of Missouri Health Care Hospitals zu einem Experiment ein. Es beteiligten sich 109 Personen, davon gehörten 96 Prozent dem Pflegepersonal an; zu 85 Prozent waren es Frauen. Sie erhielten entweder die Beschreibung eines Patienten mit starken Rückenschmerzen oder die einer Patientin mit starken Rückenschmerzen – die sich bis auf das Geschlecht nicht unterschied.

Von dem teilnehmenden Gesundheitspersonal wurde die Schmerzintensität von Patientinnen niedriger eingestuft als die von Patienten. „Die Ergebnisse der klinischen Szenariostudie legen nahe, dass Gesundheitsdienstleister die Schmerzberichte von Frauen im Vergleich zu denen von Männern unterschätzen“, heißt es in der Studie.

Und sie spiegeln eine Unterbehandlung der Schmerzen weiblicher Patienten wider, was sich negativ auf deren Gesundheit auswirken könnte. Ihrer Ansicht nach unterstreichen die Ergebnisse „die dringende Notwendigkeit, psychologische Vorurteile im Gesundheitswesen zu beseitigen, um eine faire und effiziente Behandlung für alle zu gewährleisten“.

Felix Walcher, Notfallmediziner und Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, befürwortet Untersuchungen wie die zur Schmerzmittelgabe auch in Deutschland. Die medizinische Versorgung in verschiedenen Ländern unterscheide sich fundamental.

„Entsprechend sollte man hier wirklich die Fakten sprechen lassen – und die Studie zum Anlass nehmen, in Deutschland genauer hinzuschauen“, sagt der Mediziner. Über das sogenannte AKTIN-Notaufnahmeregister wäre es möglich, erste anonymisierte Informationen in einigen Monaten zu erhalten.

dpa/sk

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