Wirtschaft

Volkswagen: Oh, Wolfsburg | ZEIT ONLINE | ABC-Z

Autofahren in der Stadt kann ein Vergnügen sein, solange man in Wolfsburg unterwegs ist. Robert Schmidt gleitet in seinem VW-Passat wie schwerelos über die mehrspurigen Verkehrsadern. Lenkt den Wagen links vorbei an der Dieselstraße, rechts ragen die roten Schornsteine des Stammwerks von Volkswagen in den Himmel, der größten Fabrik der Welt. Dann taucht er ab in den Autotunnel, der unter der Porschestraße hindurchführt, der großen Einkaufsstraße von Wolfsburg. “Diese Stadt ist eigentlich nicht für Fußgänger gebaut”, sagt Schmidt, “das Leben spielt sich hier mehr in den Ortsteilen ab.” Er muss es wissen, denn der Immobilienmakler lebt vom guten Leben der Wolfsburger.

Rolltreppe zur Autostadt in Wolfsburg vom Phaeno-Wissenschaftsmusem © Patrick Slesiona für ZEIT ONLINE

Schmidt, 46, betreibt seine Maklerfirma ebenfalls vom Stadtrand aus, in einem jener beschaulichen Wohndörfer, in denen viele der Zehntausenden Beschäftigten von Volkswagen ihre Häuschen haben. Wo am Wochenende die Grills glühen und auf den Auffahrten gerne auch mal drei neue VW-Modelle parken. “Vielen in dieser Stadt ist nicht wirklich klar”, sagt Schmidt, während er an den kilometerlangen Parkplätzen neben dem Stammwerk vorbeirollt, “dass es ihnen ziemlich gut geht.” Monatsgehälter von 3.000 Euro netto für Beschäftigte am Band seien keine Seltenheit, 60.000 Euro brutto im Jahr normal. Dazu eine fast garantierte Gewinnbeteiligung jedes Jahr, allein in diesem Jahr mehr als 4.700 Euro Tarifbonus. Einfache Arbeiterinnen und Angestellte zählten durchaus zu seinen Kunden, sagt Schmidt. “Die können sich hier noch ein Haus leisten, obwohl die Immobilienpreise nicht gerade günstig sind.”

Robert Schmidt, Immobilienmakler in Wolfsburg © Zacharias Zacharakis/​ZEIT ONLINE

Die Frage ist nur, wie lange das noch so bleiben wird, sollte es zu den harten Einschnitten kommen, die der VW-Vorstand jetzt angedroht hat. Stellenabbau, Werksschließungen, Nullrunden bei den Gehältern – momentan scheint alles zur Debatte zu stehen, nachdem die Konzernführung in dieser Woche die geltenden Tarifverträge gekündigt hat. Der Betriebsrat ist wütend, aber noch ist unklar, welche Bereiche es am stärksten treffen könnte. Wolfsburg aber – und das betont hier jeder – ist Volkswagen und steht damit im Zentrum des Sturms. 60.000 Beschäftigte arbeiten im Stammwerk, knapp 130.000 Menschen leben in der Stadt. Rein rechnerisch also ist fast die gesamte erwerbstätige Bevölkerung im Konzern angestellt oder in davon abhängigen Unternehmen. Wie lebt es sich in dieser Stadt, die wie kaum eine andere den Wohlstand verkörpert, den die Autoindustrie dem Land gebracht hat?

Das Neubaugebiet Steimker Gärten im Südosten der Stadt, in dem 1.800 Wohneinheiten entstehen sollen © Patrick Slesiona für ZEIT ONLINE

Hexenhäuschen für 500.000 Euro

Schmidt lenkt seinen Wagen westwärts heraus aus dem Zentrum. Bis in die Altstadt von Fallersleben sind es nur wenige Minuten. Ein geschichtsträchtiger Ort, der wie die meisten umliegenden Dörfer in den Siebzigerjahren von Wolfsburg eingemeindet wurde. Fachwerk säumt die engen Sträßchen, links das Schloss von Fallersleben, rechts das Geburtshaus von Hoffmann von Fallersleben, dem Dichter der Nationalhymne, des Lieds der Deutschen. Schmidt biegt in eine der Seitenstraßen ein, wo die Vorgärten gepflegt und die Einfamilienhäuser spitze Giebel haben. “Hier versuche ich schon lange, an ein Objekt zu kommen”, sagt der Makler, “aber ganz schwierig. Geht alles unter der Hand weg.” Dabei sei die Bausubstanz relativ schlicht, vergleichsweise kleine Immobilien aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren, als die erste Generation von VW-Beschäftigten hier einzog. “Heute kostet so ein Hexenhäuschen gut mal 500.000 Euro”, sagt Schmidt.

Es geht in Wolfsburg jetzt darum, diesen Wohlstand zu verteidigen. Gegen die neue Konkurrenz aus China, gegen Technologiekonzerne wie Tesla, die mit ihrer starken Software mehr aus ihren Autos herausholen als andere im Markt. In Sichtweite der Werkstore von Volkswagen, auf der langen Porschestraße, die sich vom Mittellandkanal einmal quer durch die Stadt zieht, fallen sofort die jungen Leute mit ihren bunten Haaren, den Piercings und Tattoos auf, die rauchend vor einem futuristisch anmutenden Gebäude plaudern. Auf diesen Menschen ruht ein großer Teil der Hoffnung für eine Zukunft der alten deutschen Industrie. Es ist Pause im 42 Wolfsburg, wobei man die Zahl englisch aussprechen muss, also forty-two. Schließlich reden in der Programmierschule alle Englisch. Auch Vlad Tudakow, der in dieser ungewöhnlichen Bildungseinrichtung für das Marketing zuständig ist. Seine wichtigste Botschaft: “Wir sind offen für alle. Und wir sind kostenlos.”

Kursraum in der Programmierschule 42 Wolfsburg © Patrick Slesiona für ZEIT ONLINE

Tatsächlich kann man sich an der 42er-Schule bewerben, ohne dafür besondere Vorkenntnisse zu haben. Finanziert von Sponsoren, die hier im Foyer ihr Emblem hinterlassen haben: natürlich Volkswagen und seine Softwaresparte Cariad, aber auch Bosch oder die Lufthansa. Eine Investition der Unternehmen in ihr zukünftiges Personal. Das Konzept der Schule stammt aus Frankreich, inzwischen gibt es international mehr als 50 Ableger, in Deutschland in Wolfsburg, Berlin und Heilbronn. “Abitur oder andere Bildungsabschlüsse sind nicht notwendig”, sagt Tudakow, “man muss nur über 18 Jahre alt sein.” Die Studierenden, die gerade im Foyer an ihm vorbeilaufen und zu den Räumen mit langen Schreibtischen und vielen Computern strömen, hätten ganz unterschiedliche Vorgeschichten. Manche kämen direkt von der Schule hierher, andere hätten schon viele Jahre in anderen Berufen gearbeitet, manche auch in der Gastronomie oder im Handwerk. Allerdings muss man ein vierwöchiges Bootcamp bestehen, und das habe es in sich.

Letztlich nämlich wird an der Programmierschule, auch wenn sie offen ist für Tausende Bewerberinnen und Bewerber jedes Jahr, eine sehr kleine Tech-Elite ausgebildet. “Viele der Teilnehmer wechseln schon nach dem ersten Pflichtpraktikum in eine feste Anstellung als Softwareingenieure”, sagt Tudakow. Und das, obwohl der erste Teil der Ausbildung je nach persönlichem Fortkommen nur ein Jahr dauern kann. Im Moment jedoch, schiebt der Marketingmanager nach, bekomme man die schwächelnde Konjunktur zu spüren. Die Studierenden kämen häufiger wieder zurück an die Schule für den zweiten Teil der Ausbildung, in dem man sich auf einen Fachbereich wie künstliche Intelligenz oder Fahrzeugsoftware spezialisiere. Wahrscheinlich aber müssen sie sich weniger Sorgen um ihre Zukunft machen als die meisten Menschen, die draußen vor den Türen der Schule die Porschestraße entlanglaufen.

Beteiligt an dem Neubaugebiet Steimker Gärten ist auch die Immobiliensparte von Volkswagen. © Patrick Slesiona für ZEIT ONLINE

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