Virenjäger warnen vor „tickender Zeitbombe“ | ABC-Z

Berlin. Wann springen Viren wie Corona auf Menschen über – und was löst die nächste Pandemie aus? Eine ARD-Doku gibt besorgniserregende Antworten.
Die Sonne blinzelt durch die mächtigen Bäume der Parkanlage an der altehrwürdigen Yale Universität in Washington D.C. (USA). Auf dem Weg Richtung Eingang des malerischen Hochschulgebäudes spaziert Colin Carlson. Braune Lederjacke, T-Shirt, Jeans, Umhängetasche, junges Gesicht. Er wirkt wie ein gewöhnlicher Student auf dem Weg zur Vorlesung. Doch der 27-jährige Biologe forscht hier an der Yale University School of Public Health als Assistenz-Professor für Epidemiologie. Er gilt als hochbegabtes Wunderkind der US-Wissenschaft. Mit 22 Jahren hatte er seinen Doktortitel in der Tasche.
Trotz seines jungen Alters setzen Wissenschaftler weltweit große Hoffnungen auf Colin Carlson und sein Team. Der Biologe beschäftigt sich mit globalem Wandel – einer noch jungen Disziplin, die Virologie, Ökologie und Klimawandel vereint. Das Analyseteam um Carlson sitzt vor einem großen Bildschirm mit einer Weltkarte, auf dem Risikoländer farblich hervorgehoben sind.„Wir untersuchen, wie Organismen auf Veränderungen reagieren, die wir dem Planeten zufügen“, erklärt er. Ihre Kernfragen lauten: Erhöht der Klimawandel das Risiko für weltweite Pandemien und für sogenannte Spillover? Und was könnte das nächste tödliche Virus für die Menschheit werden?
Corona bis Ebola: Wann und warum springen tödliche Viren von Tier auf Mensch über?
„Spillover – Planet der Viren“ haben daher auch die Filmemacher um Regisseur und Fernsehpreis-Gewinner Michael Wech sowie Produzent und Emmy-Gewinner Leopold Hoesch ihren neuen Dokumentarfilm getauft. Für das ARD-Projekt haben Wech und sein Team nicht nur Colin Carlson in Washington über die Schulter geschaut. Sie sind mit der Kamera um die halbe Welt gereist – von Kambodscha und Belgien bis nach Australien und Südostasien, um Virologen, Infektiologinnen, Flughundexperten und andere Fachleute aus der Wissenschaft bei ihrer Detektivarbeit auf verschiedenen Kontinenten zu begleiten. Man könnte sagen: bei ihrem weltweiten Pandemie-Puzzle.
Das Coronavirus SARS-CoV-2 wurde vor fünf Jahren erstmals in China entdeckt.
© iStock | ismagilov
Ziel der Forscher ist es, das Rätsel um die für Fachleute „magischen“ Spillover-Momente zu lösen. Spillover, so nennen Wissenschaftler den Übersprung eines gefährlichen Virus vom Tier auf den Menschen. Solche Spillover, da ist sich die seriöse Wissenschaft heute weitgehend einig, waren die Auslöser der großen Pandemien der Menschheitsgeschichte – bis hin zur jüngsten Coronavirus-Pandemie, die weltweit bis zu 20 Millionen Menschen tötete.
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Die Pandemie-Detektive wollen genau herausfinden, wann todbringende Viren auf den Menschen übergehen, welche Wildtiere dabei Ursprungswirt und Zwischenwirt sind und was solche Übersprünge wahrscheinlicher macht. Spoiler: Wir Menschen sind alles andere als unbeteiligt.
Corona & Co.: Woher stammen die Viren? Forscher stoßen auf verdächtiges Tier
Bei Biologie-Talent Carlson und dem Blick in die Zukunft landen die Filmemacher allerdings erst am Ende ihrer 90-Minuten-Doku. Zuvor gewähren sie dem Zuschauer einen spannenden Blick in den Rückspiegel. Die Doku lässt Forscher zu Wort kommen, die bei den gefährlichsten Virusausbrüchen der vergangenen 50 Jahre hautnah dabei waren, Opfer untersucht haben und die neuartigen Viren unter ihrem Mikroskop hatten. Vom Ebola-Virus in Zaire in den 1970ern über Hanta-Virus (USA), Hendra-Virus (Australien) und Nipah-Virus (Südostasien) in den 1990ern bis hin zum ersten Ausbruch eines Coronavirus (SARS) in Hongkong 2002/2003.
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Überall häufen sich zunächst mysteriöse Todesfälle, bis erste Forscher erkennen, dass es sich um einen komplett neuartigen Erreger handelt, der offenbar von Wildtieren in der Umgebung auf andere Tiere und schließlich den Menschen übergesprungen sein muss. Während der Zwischenwirt je nach Region ein anderes Nutztier ist, gerät als Ursprungswirt schon bald ein Tier in den Fokus: die Fledermaus sowie der mit ihr eng verwandte Flughund.
Aus der Spurensuche der Wissenschaftler schält sich ein weiteres Muster heraus: Die Virus-toleranten Säugetiere am Himmel wurden aus ihren angestammten Lebensräumen vertrieben – durch massive Waldrodungen oder Minenbau, kurz: das unaufhörliche Eindringen des Menschen in die Natur. „Unsere Lebensweise wirkt sich direkt auf die Umwelt aus und beeinflusst dadurch, wohin sich die Fledermäuse bewegen“, sagt im Film ein Neurologe, der 1997 das durch die Flugtiere übertragene Nipah-Virus hautnah miterlebte. „Und das führt zu Übertragungen von Krankheiten auf den Menschen.“
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Pandemie durch Coronaviren: „Es war nur eine Frage der Zeit“
Eindrucksvoll erscheinen heute die Gespräche mit Forschern aus Hongkong, die schon 2003 auf das erste gefährliche Coronavirus stießen, das als Sars in die Geschichte einging. Die bis dahin für die menschliche Gesundheit als harmlos eingestufte Atemwegserkrankung entpuppte sich als schnell mutierendes Virus, das von Mensch zu Mensch übertragen wurde und vielfach tödlich endete. Als mutmaßlichen Ursprungswirt entlarvten die Forscher die Fledermaus und Wildtiermärkte als wahrscheinlichen Ort des Übersprungs auf den Menschen.
„Deshalb war es damals für uns nur eine Frage der Zeit, bis es zu einer Pandemie durch Coronaviren kommen würde“, erzählt der Virologe Leo Poon den Filmemachern im Rückblick. „Wir sahen es als tickende Zeitbombe für die gesamte Menschheit.“ Im Jahr 2020 hätte demnach niemand mehr wirklich überrascht sein dürfen.
Droht die nächste Pandemie? „Noch tausende völlig unbekannte Viren“
Die Zahl der Spillover nimmt, getrieben von Klimawandel, Abholzung und Landraub, jedes Jahrzehnt messbar zu. Auch Biologe Carlson schaut düster in die Zukunft. „Unsere Welt hat sich bereits um 1,2 Grad erwärmt. Das reicht aus, um alles auf dem Planeten in Bewegung zu versetzen. Von hier an gibt es kein Zurück mehr.“ Was also wird das neue todbringende Virus, das die nächste Pandemie auslösen könnte? „Die Viren, die uns mit Blick auf Pandemien wirklich Sorgen machen“, sagt Carlson, „sind die, die wir kennen. Grippeviren, Coronaviren, wir erforschen sie seit Jahrzehnten und sie sind gefährlich. Aber es gibt noch tausende Viren, deren Potenzial noch völlig unbekannt ist.“
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Bis zum Jahr 2050 könne es den Daten des Teams zufolge zwölfmal so viele Spillover von Tier auf Mensch geben wie heute. „Wenn man diesen Trend weiter verfolgt“, warnt Carlson, „wird sich das, was einem heute schnell vorkommt, lächerlich anfühlen im Vergleich zu dem, was wir zu erwarten haben.“
„Spillover – Planet der Viren“, am 10. März um 20.15 Uhr im Ersten sowie als „extended Version“ in der ARD Mediathek.