Stil

Treffen mit Chanel-Chefparfümeur Olivier Polge in Paris | ABC-Z

Von wem hat er das bloß? Olivier Polge ist ungewöhnlich pünktlich. Das Interview mit dem Chefparfümeur von Chanel sollte erst in fünf Minuten losgehen. Eigentlich beginnen Gespräche mit Menschen wie ihm, also mit Künstlern, Designern oder eben Parfümeuren, doch mindestens 15 Minuten später als geplant. Nicht selten kommt noch eine halbe Stunde vorher eine E-Mail: kleine Änderung im Zeitplan, „we’re running late“, nur schon einmal zur Info.

Stattdessen hier, im Salon VIP, auf der sechsten Etage der Chanel-Büros an den Champs-Élysées in Paris, diese Überpünktlichkeit. Also, woher kommt das? Da ist man gleich bei Olivier Polges Familie, und da steht an erster Stelle dessen Vater. Porträts über den in Chanel- Zeiträumen noch immer neuen Chefparfümeur, Olivier Polge, der seit zehn Jahren an dieser Stelle arbeitet, kommen nicht ohne Verweis auf den alten Chefparfümeur von Chanel aus, der 37 Jahre lang an dieser Stelle gearbeitet hatte – und auch ein Polge ist. Olivier Polge übernahm 2015 von seinem Vater Jacques, der über Jahrzehnte vorgab, wie Chanel zu riechen habe.

Als Jacques Polge 1978 begann, war die Luxusbranche gerade im Begriff, neue Zielgruppen zu erschließen. Die bewegten Sechzigerjahre hatten den jungen Leuten einen neuen Zugang zur Mode verschafft, der nicht abhängig war von ihrem Wohlstand. Die Klientel veränderte sich, die Couture schrumpfte, das Prêt-à-porter wuchs. Die Zeit, als Luxushäuser ihren Umsatz mehrheitlich mit Accessoires und Kosmetik generieren sollten, stand noch bevor, aber Chanel war schon damals nicht nur das Haus mit den Perlensträngen, dem kleinen Schwarzen, der Stepptasche und den Tweedjacken, sondern auch: ein Dufthaus.

Die 5 war Coco Chanel´s Glückszahl

1921 begann Coco Chanel mit Parfums. Aus zehn Proben des ehemaligen Zaren-Parfümeurs Ernest Beaux wählte sie die Nummer fünf aus. Die Fünf war ihre Glückszahl, also bekam das Parfum den Namen No. 5. Von 1922 an war es frei verkäuflich. No. 22 folgte noch im selben Jahr. 1924 kamen diese beiden Düfte sowie in den folgenden Jahren Gardénia, Cuir de Russie und Bois des Îles in einem separaten Unternehmen unter, Parfums Chanel, für das sich Coco Chanel mit Pierre Wertheimer zusammentat, einem jüdischen Geschäftsmann, der es über einen Strohmann schaffte, dass sein Unternehmen unter deutscher Besatzung nicht „arisiert“ wurde. Seine Enkel Gérard und Alain führen Chanel bis heute.

Eau Splendid ist der fünfte Duft der Chance-Serie von ChanelLorraine Hellwig

Mit Coco Chanels Comeback folgte auf den Zwanzigerjahre-Parfümeur Ernest Beaux 1954 Henri Robert, auch er entwarf neue Düfte. Mit Jacques Helleu, dem neuen Image-Direktor, kam von 1965 an noch mehr Dynamik hinein. 1978 stellte er Jacques Polge als Chefparfümeur ein, und spätestens 1983, mit dem neuen Chefdesigner für Chanel-Mode, nämlich Karl Lagerfeld, stand das Team. 1984 lancierte Polge sein erstes Parfum für Chanel, Coco, nun mit eigener Kampagnenbotschafterin, der damals noch nicht einmal 30 Jahre alten Inès de la Fressange. Die Weitsicht dieser drei Männer zeigt sich auch im Casting, denn Inès de la Fressange gehört noch heute, mit 67 Jahren, zu den stilprägenden Pariserinnen.

Olivier Polge trieb die Verjüngung von Chanel via Duft voran, indem er 2001 das leichtere Coco Mademoiselle lancierte, dieses Mal mit Kate Moss. 2002 folgte das noch leichtere Chance, ein Parfum für Chanel-Einsteigerinnen, für die jungen Millennials, die sich, egal wo auf der Welt, kurz zuvor über „Die fabelhafte Welt der Amélie“ in diese Stadt verliebt hatten. Jean-Pierre Jeunet, der Regisseur, filmte nun für Chanel den Clip für Chance. Für viele junge Frauen, die gerade aus dem Teenie-Alter hinauswuchsen, roch es nach den Chancen, die ihnen hoffentlich in ihrem Leben noch bevorstanden.

Leuchtende Duftnoten wie Himbeere, Moschus oder Zedernholz

„Normalerweise sind Parfums bekannt dafür, komplex zu sein“, sagt Olivier Polge, der nun in der hellen Sitzecke im Rondell dieses VIP-Salons von Chanel Platz genommen hat. „Dieser hier ist bewusst simpel gehalten und gerade deshalb besonders.“

Es geht noch immer um Chance. Olivier Polge reicht einen Papierstreifen, auf den er soeben Chance gesprüht hat. Allerdings handelt es sich nicht um die Komposition seines Vaters aus dem Jahr 2003, sondern um ein Folgeprodukt, oder besser: das fünfte in der Chance-Serie. Denn auf das Chance-Original folgten bei Chanel Eau Tendre, Eau Vive, Eau Fraîche und nun Eau Splendid. Eine Ausnahme, denn weder von No. 5 noch von Coco Mademoiselle oder sonst einem Chanel-Duft gibt es Folgedüfte.

Im Interview spricht Olivier Polge über Gründerin Coco Chanel wie seine Arbeit als Chefparfümeur von Chanel
Im Interview spricht Olivier Polge über Gründerin Coco Chanel wie seine Arbeit als Chefparfümeur von ChanelLorraine Hellwig

„Normalerweise braucht ein Duft auch dunklere Noten. Hier wollte ich ausschließlich leuchtende einfangen“, sagt Polge. Himbeere, Geranium, Moschus und Zedernholz als Kopfnoten. „Moschus umschließt das Zedernholz, so wird es weicher“, sagt Polge. Wenn Chance also eine Frau wäre, könnte Eau Splendid dann ihr neuer Lebensabschnitt sein? „Vielleicht nicht ganz so dramatisch“, sagt Polge, „vielleicht ist es eher ihre neue Garderobe.“ Er ist Parfümeur und könnte womöglich die gesamte Interviewzeit damit verbringen, über die Bedeutung seiner Düfte zu sprechen, über deren Kopf- und Herz- und Basisnoten. Über die 30, 40, 50 Rohstoffe, die noch in diesem Parfum stecken.

Aber da ist ja die Familie, die Olivier Polge zu dem gemacht hat, der er heute ist. Also zurück zum Vater. Wie kam er damals auf Chance, diesen Nullerjahre-Duft, als die Mode sich vielleicht nicht so stark wie in den Sechzigerjahren der Teenie-Kultur hingab, aber im Luxusbereich wohl doch ein gewisses Potential für jüngere Zielgruppen vorlag? „Ich bin zu alt, um das zu wissen“, sagt Polge. Vergangenen Juli ist er 50 geworden. In den Nullerjahren war er also um die 30, längst ausgezogen von zu Hause und als Parfümeur beim großen Dufthersteller International Flavors & Fragrances (IFF) in New York tätig, der für etliche große Luxushäuser arbeitet. Nur wenige, wie Chanel, leisten sich eigene Hausparfümeure. Bei IFF lernte Polge 16 Jahre lang. Dabei war da auch sein großer Lehrmeister, der Vater.

Die Arbeit des Vaters Jacques spielte für Olivier zunächst keine Rolle

Was hat Jacques Polge also zum neuen Chance-Duft von Olivier Polge gesagt? „Haben Sie meinen Vater einmal kennengelernt?“, fragt Olivier Polge zurück. Ja, bei einem Treffen anlässlich des No.5-Jubiläums vor zwölf Jahren. Jacques Polge erklärte damals, wieso Coco Chanel mit den einfachsten Flakons arbeitete. „Nichts für die Flasche, alles für den Duft“, so fasste er ihr Prinzip zusammen. Und wie daraus später doch der „Rolls-Royce der Flaschen“ wurde.

Olivier Polge kennt seinen Vater natürlich auch anders, stiller. „Ich zeige ihm alles. Aber er spricht nicht viel.“ Auch in dieser Hinsicht dürften Vater und Sohn sich ähneln. Auch Olivier Polge antwortet hin und wieder zögerlich, gräbt seine Hände beim Sprechen in den weichen Stoff des Sofas, als wollte er darin versinken.

Er wuchs in Paris mit Interesse an Musik auf. Die Arbeit des Vaters spielte keine Rolle. „Als Jugendlicher wollte ich alles andere als das machen.“ Mit 20, da studierte er schon Kunstgeschichte an der École du Louvre, nahm er doch ein Praktikum bei Chanel an, ausgerechnet im Duftbereich. „Ich wollte mit meinen Händen arbeiten, und so kam ich auf die Labors, wo man mit den aromatischen Ölen zu tun hat.” Damit war für den Sohn die berufliche Entscheidung gefallen. Der Vater habe geantwortet: „Schlechte Idee“, so erzählt es Olivier Polge. „Wenn man Kinder hat, dann hofft man doch, dass sie irgendwann ausschwärmen und ihr Ding machen, und dieses kam zurück. Wie ein Boomerang.“ Olivier Polge muss es wissen, er hat selbst drei Kinder im Teenager-Alter. „Die wollen alles anders machen.“

Polge über Karl Lagerfeld: „Er hatte seine Nase buchstäblich überall.“

Jacques Polge fand trotzdem die richtige Ausbildungsstätte für den Sohn: den Traditionshersteller Charabot in Grasse, der Parfumhauptstadt, wo Olivier mehr als zwei Dekaden zuvor geboren wurde. 1998 ging er nach New York zu IFF, nach fünf Jahren wechselte er ins Pariser Büro. Flowerbomb von Viktor & Rolf und La vie est belle von Lancôme gehen auf ihn zurück. So kam er schließlich 2013 zu Chanel, nach knapp 20 Jahren im Geschäft. Zwei Jahre arbeitete er unter seinem Vater. „Er brachte mir die Geschichte des Hauses nahe. Warum wir Rohstoffe aus diesem Land beziehen und nicht aus jenem, den Stil von Chanel.“

Das war zu jener Zeit auch der Stil von Karl Lagerfeld. „Er kannte sich mit Parfums aus, wusste über die Neuerscheinungen in der Branche Bescheid und erinnerte sich sehr gut an alle alten Düfte. Als ich anfing, hatte ich ständig Angst, er könnte eine Wissenslücke bei mir aufdecken“, sagt Olivier Polge. „Er hatte seine Nase buchstäblich überall.“ 2015 übernahm Olivier Polge von seinem Vater und lancierte noch im selben Jahr Misia. Ein Jahr später Boy. Beide mit engem Bezug zur Gründerin Coco Chanel.

Die Pariser U-Bahn ist ein guter Ort um die Parfums der Menschen zu riechen

Mit dem fortschreitenden Klimawandel ist der Sohn heute vor eine Herausforderung gestellt, die unter dem Vater noch nicht so akut bestand. In Grasse, wo Chanel noch immer eigene Felder unterhält, weiten sie jetzt ihren Rosenanbau aus. „Die Pflanze braucht das klare Signal des Wetters, und weil die Winter nicht mehr so kalt sind, ist der Ertrag auf den Feldern zurückgegangen“, sagt Olivier Polge.

Auch in Paris riecht es an diesem Tag Ende Januar, ungewöhnlich früh, nach Frühling. Das gilt natürlich nur, sofern man überirdisch bleibt. Olivier Polge steigt auch regelmäßig hinab, in die Métro. Wie beschreibt ein Parfümeur den Geruch der Pariser U-Bahn? „Hm, vielfältig“, sagt er und lacht. „Aber es ist ein guter Ort, um Parfums an den Menschen zu riechen. Davon gibt es dort genug. Und es ist praktisch, weil sämtliche Chanel-Büros auf der Linie 1 liegen.“ Rue Cambon, die Champs-Élysées und schlussendlich stadtauswärts Neuilly, wo sich die Zentrale von Chanel befindet, in der Polge eigentlich arbeitet. „Sehr angenehm.“

Angenehm – es ist das erste deutsche Wort in diesem Interview auf Englisch, das überpünktlich begann und genauso endet. Olivier Polge kommt gerade vom Balkon im sechsten Stock wieder zur Terassentür herein, die Fotografin hat Außenaufnahmen gemacht.

Woher diese Deutschkenntnisse? Eigentlich spreche er kein Deutsch, sagt Polge. Sein Bruder, der Erstgeborene, habe es viel besser gelernt. Denn zu den Polge-Brüdern gibt es nicht nur den Polge-Vater, den Chanel-Parfümeur. Es gibt auch die Polge-Mutter, eine Deutsche. „Meine Mutter kommt aus Krefeld.“ Früher habe er häufig die Sommerferien dort verbracht. „Ich bin 20 Jahre lang nicht mehr dort gewesen, vergangenes Jahr habe ich es endlich wieder geschafft.“ Besuch bei der Tante. Die Mutter ist mittlerweile gestorben. „Waren Sie einmal in Düsseldorf an der Immermannstraße?“, fragt Olivier Polge. „Tolle japanische Restaurants.“ Mit 20 sei seine Mutter damals nach Paris gezogen. „Da hat sie einen französischen Typen kennengelernt. Das war es dann.“

Die Nase wird Olivier Polge von seinem Vater haben, das Gefühl für Zeit, die Pünktlichkeit, hat er, klar, von der deutschen Mutter.

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