Vierschanzentournee, Martin Schmitt: „Es ist auch für mich ein erstaunlicher Weg, den Pius Paschke macht“ | ABC-Z
Ausgerechnet kurz vor der Vierschanzentournee landete Pius Paschke, bis dato Dominator des Winters, im Mittelfeld. Wie ist das einzuordnen? Und wie wurde aus dem Mann im Schatten der Weltcupführende? Skisprung-Held Martin Schmitt hat Antworten. Er setzt noch auf einen anderen Deutschen.
Bereits zum 73. Mal wird die Vierschanzentournee um den Jahreswechsel Tausende Sportfans in den Stadien und vor dem Bildschirm in den Bann ziehen. 16-mal jubelte am Ende ein Deutscher, darunter alleine viermal Jens Weißflog. Zuletzt war es Sven Hannawald – 23 Jahre ist das her. Und seitdem – oder besser, seit die deutschen Springer seit gut zehn Jahren aus einem Tal wieder emporgekommen sind – stellt sich jedes Jahr wieder die Frage: Schafft es dieses Mal einer?
Fünf zweite Plätze aus den vergangenen neun Jahren zeugen davon, dass sie immer mal wieder dicht dran waren – zuletzt Andreas Wellinger –, aber eben auch immer ein anderer Athlet besser war. In diesem Winter nun sprang sich Pius Paschke mit 34 in die Form seines Lebens, feierte fünf Weltcupsiege (zuvor hatte er einen einzigen) und reist als Führender des Gesamtweltcups zur Tournee. Allerdings: Beim letzten Weltcup vor Weihnachten in Engelberg landete er plötzlich auf den Plätzen zehn und 18.
Skisprung-Held Martin Schmitt (46) wird die Tournee als Eurosport-Experte begleiten. Der zweimalige Gesamtweltcup-Sieger und Einzel-Weltmeister im WELT-Gespräch.
WELT: Herr Schmitt, ein Dämpfer zur rechten – oder zur unrechten Zeit? Nimmt es den Druck oder bringt es zu sehr zum Grübeln?
Martin Schmitt: Ein Dämpfer ist nie gut, aber wenn es ihn schon gibt, dann doch besser in Engelberg als in Oberstdorf. Pius hätte in Engelberg auch nicht gewinnen müssen, aber wenn er sich auf einem Podest oder in der Nähe platziert hätte, wäre es wahrscheinlich die beste Ausgangsposition für die Tournee gewesen. Ich sehe jetzt aber auch nicht das große Drama. Er hat es selbst gut eingeordnet. Es kamen ein paar Faktoren zusammen, und unter den Bedingungen vor Ort hat sein Sprung nicht mehr funktioniert. So kann man es sehen und abhaken.
WELT: Das ist allerdings meistens leichter gesagt als getan. Was hilft?
Schmitt: Pius muss auf seine Qualitäten vertrauen. Und ich glaube, durch die Ruhetage über Weihnachten ist er auch wieder handlungsfähiger und hat das richtige Feingefühl, um im kurzen Moment der Absprungbewegung genau das Richtige zu tun. Das ist nichts, glaube ich, was er über eine Trainingsphase regeln könnte.
WELT: Können Sie kurz erklären, was in Engelberg falsch lief? Im Vorjahr hatte er dort gewonnen.
Scmitt: Pius hat zuletzt einen sehr, sehr aggressiven Sprung gehabt, war also sehr schnell in der Flugposition, hat die Verbindung sehr schnell gemacht und war auch vom Körperschwerpunkt an der Schanzentischkante sehr weit vorn.
WELT: Ein Sprung am Limit?
Schmitt: Genau. Er muss immer zusehen, dass der letzte Abdruck nicht zu sehr über den Fußballen kommt. Denn dann kriegt er immer einen kleinen Taucher vom Ski, hat nicht sofort die Anströmung. Der Schneefall in Engelberg stoppt ja etwas, das heißt, man ist in der Anfahrtsposition noch ein bisschen weiter vorn – und das hat sein System nicht ausgehalten. Dazu die Rückenwind-Bedingungen. Und dann war er viel zu flach. In der Summe hat das, was zuvor in Perfektion funktioniert hat, nicht mehr zum Erfolg geführt. Er war gewissermaßen ein bisschen drüber. Das sind nur Nuancen, 1, 2, 3 Grad Veränderung im Körperwinkel. Aber das reicht schon. Und trotzdem hat Pius eine extrem gute Basis, die normalerweise mit ein paar Tagen Ruhe auch wieder zurückkommt.
WELT: Wie blicken Sie jetzt also auf die Tournee?
Schmitt: Nach Engelberg sehe ich die österreichische Mannschaft in der Favoritenrolle, weil sie sehr breit aufgestellt ist. Sie haben mit Jan Hörl und Daniel Tschofenig zwei absolute Topspringer. Dann kommt die Erfahrung mit Stefan Kraft dazu, der alles auf die Tournee ausgerichtet hat und scheinbar rechtzeitig in Form kommt. Und auch dahinter blitzt immer wieder das Können anderer Österreicher auf. Im deutschen Team sieht es aber nicht viel schlechter aus, man hat allerdings nicht diese Breite, dafür in Pius immer noch den Gesamtweltcup-Führenden. Er hat trotz des Dämpfers die Fähigkeiten, jederzeit ein Springen zu gewinnen. Auch Andreas Wellinger zeigt immer wieder Top-Einzelsprünge, ihm fehlt aber noch die Stabilität.
WELT: Was trauen Sie ihm zu?
Schmitt: Da wird viel von Oberstdorf abhängen – und das ist eine Schanze, die er kann und mag. Ich traue ihm zu, dass er bei der Tournee konstant sehr gute Sprünge zeigt. Und dann ist auch mit ihm zu rechnen. Ich drücke Pius die Daumen, dass die kurze Pause hilft, und Andy, dass er noch einen Schritt zulegen kann – und ich glaube, das kann er.
WELT: Paschke, Sie erwähnten es, führt weiterhin den Weltcup an. Es ist bemerkenswert, wie lange er durchgehalten hat, obwohl er nie oben mitmischte. Wie sehen Sie seinen Weg?
Schmitt: Es ist auch für mich ein erstaunlicher Weg, den Pius macht. Dass er sich jetzt in diesem Alter noch mal so verbessert, ist beachtlich – da kann ich nur gratulieren. Bundestrainer Stefan Horngacher hat immer wieder mal in Gesprächen hervorgehoben, wie gut Pius im Training schon gesprungen ist und dass er oft Phasen hatte, in denen er auch das Niveau der Mannschaft mitbestimmt hat. Aber dass er jetzt noch mal so einen Sprung macht, damit konnte man nicht rechnen, glaube ich. Das spricht für Pius, der eine wahnsinnige Leidenschaft für den Sport hat.
WELT: Was macht ihn außer dieser Leidenschaft noch aus?
Schmitt: Er ist allgemein ein extrem gut ausgebildeter und talentierter Sportler, also koordinativ extrem geschickt, hat ein sehr großes sportmotorisches Talent. Das gepaart mit seinem Arbeitsethos führt jetzt dazu, dass er richtig belohnt wird für seinen Einsatz die ganzen Jahre über.
WELT: Skispringen ist ja manchmal schwer zu erklären. Aber was hat vorher gefehlt?
Schmitt: Er hat sich technisch verbessert, speziell flugtechnisch hat er sich über die letzten Jahre enorm entwickelt. Es muss natürlich immer alles Hand in Hand gehen: Welche Voraussetzungen schaffe ich über die Absprungbewegung? Wie viel Energie ist in meinem Sprung? Wie kann ich das nutzen? Wie kann ich das Material darauf abstimmen? Die Flugtechnik ist also das eine, aber es ist nicht so, dass ich die Position, die ich gern einnehmen will, auch einfach einnehmen kann, weil ich abhängig bin von den Rahmenbedingungen. Also: Was macht mein Material und welche Energie habe ich über die Absprungbewegung erzeugt?
WELT: Ein fragiler und manchmal auch langer Prozess also?
Schmitt: Und einer, der nie immer geradeaus verläuft, sondern Umwege nimmt und meistens in kleineren Schritten passiert. Dann ist es oft auch nachhaltiger. Und das hat Pius gemacht. Er hat sich auch über die die Vielzahl der Sprünge, die er mittlerweile hat, ein neues, besseres Bewegungsmuster angeeignet und kann darauf momentan in jeder Situation zurückgreifen. Es ist schön zu sehen, dass Veränderungen auch im relativ hohen Sportleralter noch möglich sind.
WELT: Es zeigt auch, dass es sich lohnt, an sich zu glauben und weiter durchzuziehen.
Schmitt: Der Glaube an sich selbst ist ein wichtiger Punkt. Pius war ja nicht der 18-,19-Jährige, der in den Weltcup kam und die Bestätigung erhielt: ‚Hey, du bist ein ganz Guter.‘ Im Gegenteil. Er hat erstmal die Bestätigung bekommen: ‚Für dich ist die Luft da oben ganz schön dünn.‘ Über die Jahre wechselte er immer mal wieder zwischen Weltcup, COC, dann wieder Weltcup. Dabei immer den Glauben zu haben: ‚Hey, auch ich kann Top Ten, auch ich kann aufs Podest, und auch ich kann gewinnen.“ – das ist ein mentaler Prozess. Einer, den andere Springer nicht in dieser Art durchlaufen mussten, weil sie nie die Erfahrung gemacht haben, dass es auch so schwierig sein kann.
Melanie Haack ist Sport-Redakteurin und war bei der Gala Sportler des Jahres. Für WELT berichtet sie seit 2011 über olympischen Sport und war auch bei den Spielen von Paris vor Ort. Hier finden Sie alle ihre Artikel.