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Vier Jahre nach Corona-Krise: Tönnies erhält Entschädigung – und spendet – Politik | ABC-Z

Nach vier Jahren zähem Rechtsstreit haben sich der Fleischkonzern Tönnies und das Land Nordrhein-Westfalen auf einen Kompromiss zur staatlichen Erstattung von Lohnfortzahlungen während eines massenhaften Corona-Ausbruchs im Sommer 2020 geeinigt. Das Unternehmen erhält vom Land NRW nun doch 3,2 Millionen Euro – und verpflichtet sich, diese Summe umgehend zu spenden: Das Geld soll in soziale Projekte zur besseren Integration von meist osteuropäischen Arbeitnehmern fließen. NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU), der sich lange gegen die Zahlungen an Tönnies gesperrt hatte, sprach am Montag von einem „Schlussstrich.“ Konzern-Chef Clemens Tönnies erklärte, man könne nun „das Thema Corona endgültig zu den Akten legen.“

Die außergerichtliche Einigung erinnert an einen dramatischen Tiefpunkt der Corona-Pandemie. Mitte Juni 2020 hatte der Billigfleischproduzent seinen größten Schlachthof im ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrück fünf Wochen lang stilllegen müssen, nachdem sich über 2000 Mitarbeiter und Angehörige infiziert hatten. Ein Hygiene-Experte entdeckte die bis dahin unbekannte Ursache der Ansteckung: Das Kühl- und Belüftungssystem bei Tönnies hatte Aerosole (und damit das Virus) verbreitet.

Im „Tönnies-Lockdown“ mussten auch Bars, Fitnessstudios und Kinos schließen

Die Behörden reagierten mit drastischen Maßnahmen: Die Stadt Verl etwa ließ einen ganzen Straßenzug wochenlang einzäunen, in dem Hunderte Tönnies-Mitarbeiter aus Rumänien, Polen oder Bulgarien auf oft engstem Raum lebten. Die Billiglöhner und ihre Nachbarn mussten vom Roten Kreuz und von Bundeswehrsoldaten mit Lebensmittelspenden und Wasser versorgt werden. Insgesamt etwa 15 000 Menschen mussten in Quarantäne.

Brotausgabe an Tönnies-Mitarbeiter vor einem der Wohnhäuser, die 2020 in Verl-Sürenheide unter strikte Quarantäne gestellt worden waren.  (Foto: David Inderlied/DPA)

Zudem wurden 640 000 Menschen in den Kreisen Gütersloh und Warendorf dem „Tönnies-Lockdown“ unterworfen: Bars, Fitnessstudios oder Kinos mussten schließen, im öffentlichen Raum durften sich maximal zwei Personen oder Menschen treffen, die ohnehin in einem Haushalt lebten. Sommertouristen aus Gütersloh wurden in Schleswig-Holstein oder Bayern verschärften Kontrollen unterworfen – oder von ihren Ferienunterkünften gebeten, zu Hause zu bleiben.

Greenpeace schmähte Tönnies als „Schweinesystem“

Politiker gaben sich entsetzt, Greenpeace schmähte Tönnies als „Schweinesystem“. Der Corona-Ausbruch in Rheda-Wiedenbrück brachte die deutsche Schlachtindustrie in Verruf, vor allem wegen ihrer Arbeitsbedingungen. 3500 der damals 6500 Mitarbeiter im Konzern-Stammwerk in Rheda waren 2020 „Werkvertragsarbeiter“ – angeheuert von zum Teil obskuren Subunternehmern in Rumänien, Polen oder Bulgarien, untergebracht in Sammelunterkünften, oft miserabel bezahlt. Der Bundestag reagierte: Ein neues Gesetz zwang die Branche, ihre Arbeiter direkt anzustellen und sich auch um deren Unterkünfte zu kümmern. Heute, so versichert das Unternehmen auf SZ-Anfrage, seien alle 7000 Mitarbeiter in der Fleischproduktion in Rheda fest angestellt; etwa 2100 Kollegen lebten in betriebseigenen Wohnungen.

Auch Clemens Tönnies selbst hatte im Juni 2020 Besserung geschworen. „Wir werden die Branche verändern. Dafür steh’ ich gerade“, erklärte er. Gleichzeitig jedoch verlangte der Konzernchef Entschädigung vom Land – für Löhne und Sozialbeiträge, die sein Unternehmen weitergezahlt habe während der behördlich erzwungenen Werksschließung. Solche Ausgleichszahlungen sehe das Infektionsschutzgesetz nun mal vor für Firmen, die unverschuldet durch Corona-Auflagen in Bedrängnis geraten seien. Wieder erntete er Entrüstung, Sozialminister Laumann versprach prompt und persönlich Widerstand: „Sie können ganz sicher sein, dass die Behörden in NRW freiwillig keinen Cent an Herrn Tönnies bezahlen werden.“

Mehr als 1000 Gerichtsverfahren lauerten, zwei Musterfälle landeten bereits beim Bundesverwaltungsgericht. Ursprünglich forderte Tönnies 4,4 Millionen Euro Schadenersatz. Nun haben sich Konzern und Ministerium auf 3,2 Millionen geeinigt. Und darauf, dass Tönnies diese Summe komplett bereitstellt „für soziale Projekte zugunsten von Beschäftigten in schwierigen Arbeits- und Lebenssituationen.“ Gemeint sind vorrangig osteuropäische Arbeiterinnen und Arbeiter in der Fleischindustrie, vor allem in Ostwestfalen.

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