Vier Bilanzen des Popjahres 2024: Ungesundes Wachstum, diffuse Gefühligkeit | ABC-Z
Im Wrapped-Gefängnis
Unlängst setzte Will Page, ehemals Chefökonom von Spotify, eine bemerkenswerte Zahl in die Welt. Aktuell werden auf Streaming-Portalen pro Tag 120.000 Songs hochgeladen, so viel Musik, wie im Jahr 1989 insgesamt erschienen ist – der von KI produzierte Anteil (vermutlich) stark steigend. Tausende Musiker:innen und Autor:innen haben sich zuletzt mit einer Petition gegen die Nutzung ihrer Werke als Trainingstool gewehrt.
Doch zurück zu der Zahl. Wer bitte soll das hören? Und warum? Letzteres wissen wohl nur Programmierer der Algorithmen, die der Kundschaft Titel vorschlagen. Pop als gesellschaftlicher Resonanzraum, als Ort für den Austausch von Ideen und Sehnsüchten, verschwindet zusehends. Da können Swifties noch so eifrig Freundschaftsbänder für die Community basteln – der Rest fragmentiert vor sich hin.
Mehr Problembewusstsein das Geschäftsmodell betreffend wäre ja schön. Doch erst unlängst illustrierte der bizarre Hype um die Spotify-Wrapped-Kampagne – ein individualisierter Jahresrückblick, bei dem Nutzer:innen ihren Konsum putzig aufbereitet bekommen –, dass der schnäppchenbewusste Endverbraucher Streamingdienste immer noch schätzt – auch wenn deren schlechter Umgang mit Musiker:innen längst kein Geheimnis mehr ist. Geneigte Konsument:innen basteln derweil weiter an ihrer Echokammer, eher eine „mit Spiegeln tapezierte Gefängniszelle“, wie es das Nachrichtenportal Netzpolitik treffend formulierte.
Crack Cloud: „Red Mile“
Jeff Parker ETA IV-tet: „The Way Out of Easy“
Mabe Fratti: „Sentir Que No Sabes“
Nala Sinephro: „Endlessness“
Jamie xx feat. Oona Doherty: „Falling Together“
Dass man da zuverlässig mit unerhört Neuem konfrontiert, das die Synapsen britzeln lässt – unwahrscheinlich. Schließlich arbeiten die Anbieter auf eine maximale Verweildauer bei ihren Plattformen hin. Doch noch gibt es sie, analoge Orte mit echten Menschen: Plattenläden, mit Herzblut betriebene Clubs.
Allerdings denkt etwa die Hälfte der in Berlin Ansässigen darüber nach, im kommenden Jahr zu schließen. Währenddessen beschließt der Senat ein brutales Sparprogramm im Kultursektor. Laut einer Prognose des britischen Branchenverbands NTIA könnten auf der Insel Clubs bis Ende des Jahrzehnts komplett verschwunden sein. Wer sich durch die Wintertrübnis netflixt und sich jetzt denkt: „Wann war ich eigentlich zuletzt beim Tanzen?“, der tanze doch mal durch die Wohnung! Und packe sich dazu „Falling Together“ von Jamie xx feat. Oona Doherty auf die Ohren.
So viel Pathos darf sein – zum Ausklang eines Jahres, das auch abseits solcher Miseren wenig Anlass zum Feiern bot. Stephanie Grimm
Hoffnung auf Heilung
Spirituell ohne Esoterik: Die New Yorker Musikerin Ganavya
Foto:
Fabrice Bourgelle
Die Moderne hat die Verbindung zwischen Musik und Heilung zwar nicht erfunden, aber in Form von Heileurythmie, Gospel und wissenschaftlich-gestützter Musiktherapie auf ein stattliches Ausmaß expandiert. Der Weg zur populären Musik war von da aus kurz. So hat US-Freejazzer Albert Ayler schon 1970 mit seinem Albumtitel „Music Is The Healing Force of The Universe“ das Zeitgeschehen um Hippies, Spiritualität und New-Age-Gurus auf den Punkt gebracht.
Nach einer längeren Phase, in der sich Pop eher wenig mit diesem Topos auseinandersetzte, hat sich dies spätestens seit dem Suizid des schwedischen DJs Avicii gewandelt: Geistiges Wohlbefinden wurde hot topic, Healing zum Buzzword. Nochmal befeuert durch die Coronapandemie und die Kriege der letzten Jahre, schossen Konzeptalben und Workshops zum Thema wie Pilze aus dem Boden: Jazz- und Elektronik-Musiker*innen tragen Hoffnung auf Heilung durch die eigene Musik immer selbstbewusster vor. Auch Stars wie Lady Gaga sangen 2024 ausgiebig von instabiler mentaler Gesundheit.
Levin Goes Lightly: „Numb“
Rejoicer: „This Is Reasonable“
Ganavya: „Daughter of a Temple“
Ana Lua Caiano: „Vou Ficar Neste Quadrado“
SALOMEA: „Good Life“
So feiert ein therapeutisch-psychologisches, gleichsam vages Vokabular Hochkonjunktur, was in seiner diffusen Gefühligkeit falschen Propheten Tür und Tor öffnet: Lincoln Jesser, mittelprächtiger US-EDM-Produzent, ist mittlerweile zum Medium einer Community geworden, die in Frequenzen wie 777Hz den Schlüssel zu den Chakras wähnen – und dies mit Hunderttausenden Insta-Followern auch zahlenmytisch verkauft. Noch ist die Szene überschaubar, 2024 scheint dennoch ein Schritt in die gegenaufklärerische Richtung der esoterischen Bauernfängerei gewesen zu sein.
Dass es anders geht, zeigten indes die New Yorker Musikerin Ganavya und die Kölner Gruppe SALOMEA: Während die eine in der Tradition ihrer Jazz-Ahnen ein gemeinschaftlich gedachtes Zeremoniell ersingt, das spirituelle Gesundheit gut mit der Politik der Straße verschränkt, propagieren die anderen Leidenschaft füreinander und das „Good Life“, während sie die Übel der Welt deutlich benennen: Patriarchat und „erkrankte Gesellschaft“. Lars Fleischmann
It’s a Femininomenon
Vorlaut ist das neue laut: Charlie xcx
Man muss sich nur die internationale Top Ten der meistgestreamten Alben auf Spotify 2024 ansehen: Die Ränge 1 bis 8 belegen dreimal Taylor Swift, Billie Eilish, Sabrina Carpenter, Karol G., Ariana Grande und SZA. Erst auf Platz 9 folgt mit Benson Boones „Fireworks & Rollerblades“ das Album eines Künstlers.
It’s a Femininomenon. So könnte man das zurückliegende Popjahr in den Worten Chappell Roans beschreiben. Auch wenn die US-Künstlerin, die mit ihren euphorischen Hymnen 2024 kometenhaft in den Popolymp aufstieg, ihre Wortschöpfung eigentlich auf enttäuschende männliche Performance beim Sex bezog. Wer nicht unbedingt wollte, konnte in den vergangenen Monaten problemlos darauf verzichten, Musik von Männern zu lauschen.
Früh im Jahr brachte Tyla mit einer Mischung aus R&B, Pop, Afrobeat und Amapiano, der südafrikanischen Version von House, „Water“ zum Kochen. Den Sommer dominierte Charli xcx. Auf ihr Album „Brat“ konnten sich alle einigen, Kids wie Kritik.
Beth Gibbons: „Lives Outgrown“
Coco Puma: „Panorama Olivia“
Jlin: „Akoma“
Nilüfer Yanya: „My Method Actor“
Charli xcx: „Brat“
Was ging, wurde in die Farbe von dessen Cover getaucht, das ungesunde Hellgrün eines glänzenden Granny-Smith-Apfels, der unter der Schale schon zu faulen begonnen hat. Alle wollten brat sein, wie ein schludriges, etwas zu vorlautes Partygirl, das seine Unsicherheiten hat, aber dennoch meist eine gute Zeit. Charli xcx propagiert eine neue Art von Weiblichkeit im Pop, Prinzessinnen braucht eh kein Mensch.
Jenseits des Mainstreams widmete sich die Dänin Astrid Sonne all den Zweifeln, die einen als Künstlerin vielleicht noch intensiver verfolgen, und verpackte diesen „Great Doubt“ in elektronische Soundschachteln, sogar mit Gesang. Jlin veröffentlichte mit „Akoma“ ein hypnotisches, hochkomplexes Meisterwerk. Auch einige Ikonen der 1980er und 90er Jahre meldeten sich zurück: Portishead-Sängerin Beth Gibbons mit „Lives Outgrown“, Kim Deal erst kürzlich mit ihrem Solodebüt „Nobody Loves You More“.
It’s a Femininomenon, gerade weil es in einer Zeit geschieht, in der weltweit eine Rückkehr von Antifeminismus und traditionell-patriarchalen Rollenvorstellungen zu beobachten ist. Pop als Hoffnungsschimmer. Beate Scheder
Artists oder Avatare
ein Jazzer, der HipHop mag: Jeff Parker in Aktion
Foto:
Dave Haskell
Kalte Progression essen Lohnsteigerung auf. Universal-Europa-CEO Frank Briegmann isst Dubai-Schokolade auf. Den Eindruck vermittelte der Betriebswirt des börsennotierten Musikkonzerns zumindest in einem Interview mit dem Wirtschaftsteil der FAZ anlässlich von 15 Jahren Musikstreaming. Briegmanns Unternehmen, sei „Artists und Mitarbeitenden verpflichtet, aber auch den Shareholdern“, hieß es da, nicht so, wem von den dreien die meiste Aufmerksamkeit gilt.
Muss man sich Briegmann also wie Dagobert Duck beim Golddukatenbad in Entenhausen vorstellen, als er davon sprach, es sollte mehr „incentiviert“ werden, um „Superfans“ mit ABBA-KI bei der Stange zu halten, damit die daraus eigene Avatare kreiieren? ABBA-Avatare! Ob die 120.000 täglich gestreamten Songs von Artists oder Avataren stammen, blieb ungeklärt. Eine Absage gab es auf die Frage nach der 1.000-Stream-Bezahlschranke von Spotify.
Conway the Machine: „Slant Face Killah“
E Ruscha V: „Seeing Frequencies“
Hjirok: „Hjirok“
Jeff Parker ETA-IVtet: „The Way out of Easy“
Actress: „Statik“
Die konterte Briegmann mit der Bemerkung, er frage sich, „woher in der Diskussion der Anspruch kommt, dass ich als Hobbymusiker Geld erhalte“. Wer kassiert eigentlich die Tantiemen von Artists, die bei Spotify 999 Streams erzielen? Verstummen sie und ihre Indielabels bald, weil Plattenmultis nur „diejenigen unterstützen wollen, die professionell Musik machen“ (Briegmann)? und was genau bedeutet professionell hinsichtlich guter Musik?
Das Masse-statt-Klasse-Prinzip unterläuft innovative Popmusik seit rund 80 Jahren, etwa als Garant von demokratischen Aushandlungsprozessen, Dynamo für gesellschaftlichen Wandel und hyperschnellem DiY-Labor. Ein Betätigungsfeld, in dem Bildungsunterschiede, rassistische und Genderbenachteiligungen wettgemacht werden.
Weil Musikmachen unterhalb der Schwelle von Majorlabels allerdings mit Voluntarismus verbunden ist, lässt es sich im Netz leicht ausbeuten und noch leichter wegsparen, wenn es die politische Kaste stört. Siehe das neoliberale Wording vom Ex-Musikmanager und amtierenden CDU-Kultursenator Joe Chialo in Berlin. Julian Weber