Viele junge Menschen wissen laut einer Umfrage wenig über den Holocaust | ABC-Z
Was ist der Holocaust? Wie viele Jüdinnen und Juden wurden durch das NS-Regime ermordet? Vor allem junge Menschen in den USA und einigen EU-Ländern zeigen bei diesen Fragen deutliche Wissenslücken.
Etwa sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden vom nationalsozialistischen Deutschland systematisch verfolgt und ermordet. Doch rund 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schwindet das Wissen um den Holocaust und die Schoah zusehends – vor allem bei der jüngeren Generation. Zu diesem Schluss kommt eine Umfrage der Jewish Claims Conference.
In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen gaben bei der Befragung in Deutschland etwa 40 Prozent an, nicht gewusst zu haben, dass etwa sechs Millionen Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden. 15 Prozent glaubten, es seien weniger als zwei Millionen gewesen. Zwei Prozent aller in der Bundesrepublik befragten Bürgerinnen und Bürger waren der Auffassung, der Holocaust habe überhaupt nicht stattgefunden.
Insgesamt glaubten in sieben der acht untersuchten Länder mindestens 20 Prozent der Befragten, dass zwei Millionen oder weniger Jüdinnen und Juden während des Holocaust ermordet wurden. In Rumänien waren es 28 Prozent, nahezu ebenso viele mit 27 Prozent in Ungarn und in Polen gaben das 24 Prozent der Teilnehmenden der Umfrage an. In Deutschland waren es 18 Prozent.
Der Holocaust-Index der Claims Conference
Die Conference on Jewish Material Claims Against Germany, kürzer auch Jewish Claims Conference oder Claims Conference genannt, ist ein Zusammenschluss mehrerer jüdischer Organisationen. Sie wurde 1951 gegründet und hat ihren Hauptsitz in New York.
Die Mitglieder setzen sich für Entschädigungen für Holocaust-Überlebende in aller Welt ein. Im vergangenen Jahr verteilte sie nach eigenen Angaben mehr als 535 Millionen US-Dollar an Entschädigungen an mehr als 200.000 Überlebende in 83 Ländern.
Für die aktuelle Umfrage zum Wissen über Holocaust und Schoah führte die Organisation eine repräsentative Umfrage in acht Ländern durch. Dabei wurden zwischen dem 15. und 28. November 2023 in jedem Land etwa 1.000 Menschen befragt. Zu den untersuchten Ländern gehören die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Frankreich, Österreich, Deutschland, Polen, Ungarn und Rumänien.
Große Unterschiede beim Holocaust-Begriff
In Frankreich gaben 46 Prozent der Befragten zwischen 18 und 29 Jahren an, noch nie von dem Begriff Schoah gehört zu haben. In allen anderen Ländern wurde nach dem Begriff Holocaust gefragt, der in Frankreich jedoch kaum gebräuchlich ist. In Österreich gaben 14 Prozent der Befragten zwischen 18 und 29 Jahren an, noch nie vom Holocaust gehört zu haben, in Rumänien 15 Prozent. In Deutschland gab mit zwölf Prozent etwa jede oder jeder Zehnte an, der Begriff Holocaust sei unbekannt. Im Vereinigten Königreich waren es hingegen nur fünf Prozent, noch wenigeren war der Begriff in den USA (drei Prozent), Polen (zwei Prozent) und Ungarn (ein Prozent) unbekannt.
Die Befragten hatten dabei vier Antwortmöglichkeiten, auf die Frage, ob sie den Begriff Holocaust beziehungsweise Schoah kennen. Die Antworten „Ja, definitiv“ und „Ja, ich glaube“ wurden in einer Studienzusammenfassung zu „Ja“ zusammengefasst. Die Antworten „Nein, definitiv nicht“ und „Nein, ich glaube nicht“ wurden in der Zusammenfassung zu „Nein“ zusammengefasst. Aufgrund von Rundungen kann es dabei zu minimalen Abweichungen der Prozentangaben kommen.
Schoah und Holocaust
Schoah oder Shoa ist das hebräische Wort für Katastrophe beziehungsweise Untergang. Im Hebräischen wird es ausschließlich für die Massenvernichtung der Jüdinnen und Juden unter der nationalsozialistischen Herrschaft verwendet. Der Begriff Holocaust bezieht auch die systematische Verfolgung und Vernichtung von anderen Bevölkerungsgruppen, etwa der Sinti und Roma oder politisch Verfolgter, mit ein.
In fast allen Ländern, in denen die Umfrage im November 2023 durchgeführt worden war, herrschte bei der Hälfte oder einer Mehrheit der Befragten die Sorge, dass sich etwas wie der Holocaust wiederholen könnte. Vor allem in den USA äußerte eine Mehrheit von 76 Prozent diese Angst. In Großbritannien waren es 69 Prozent, in Frankreich 63 Prozent und in Österreich 62. In Deutschland gaben 61 Prozent der Teilnehmenden an, dass bei ihnen diese Sorge bestehe.
Zentralrat der Juden alarmiert über Unwissenheit
Der Zentralrat der Juden in Deutschland zeigte sich alarmiert über die Ergebnisse der Umfrage. „Der besorgniserregende Anstieg antisemitischer verbaler und körperlicher Gewalt, den wir in Deutschland beobachten, hat seine Wurzeln zu einem großen Teil in der Desinformation und dem Mangel an Informationen über den Holocaust“, sagte Zentralratspräsident Josef Schuster. Die Studie zeige die Dimension des fehlenden Wissens, insbesondere mit Blick auf junge Erwachsene. Politik, Bildung und Medien müssten gemeinsam gegensteuern.
In Deutschland planen mehrere Gedenkstätten anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar besondere Veranstaltungen. Im vergangenen Jahr hatten viele der Gedenkstätten eine anhaltend hohe Zahl an Besucherinnen und Besucher verzeichnet, wie eine Umfrage der Nachrichtenagentur epd ergab. Das gilt etwa für die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen in Brandenburg, die 2024 fast eine halbe Million Besucher und Besucherinnen zählte. Auch die KZ-Gedenkstätte Dachau in Bayern, die mehr als 900.000 Menschen besuchten, sprach von einem „stetig steigenden Interesse“.
Das Berliner Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ verzeichnete 2024 hingegen einen Besucherrückgang um knapp 21 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das Zentrum war mit knapp 1,63 Millionen Gästen im vergangenen Jahr aber der am meisten besuchte Ort des Gedenkens und der Information über das Nazi-Regime.
Kaum noch lebende Zeitzeugen
Das Bemühen, über die Zeit des Nationalsozialismus und den Holocaust zu informieren, wird durch die schwindende Zahl der Zeitzeugen erschwert. Schätzungen der Claims Conference leben heute weltweit noch etwa 245.000 jüdische Holocaust-Überlebende in mehr als 90 Ländern. Mit 49 Prozent lebt ein Großteil von ihnen demnach in den USA. Fast alle der Zeitzeugen erlebten die Ereignisse als Kinder.
Transparenzhinweis: Nach der Erstveröffentlichung haben wir Angaben zu den Ergebnissen der Befragung konkretisiert und einen Absatz zur Methodik hinzugefügt.