Viel mehr als Münchens großer Chronist: Ein Nachruf auf AZ-Reporterlegende Karl Stankiewitz | ABC-Z
München – Das Gedächtnis, das Gewissen dieser Stadt wohnt in einem wunderschönen, bürgerlichen Altbau an der Widenmayerstraße. Draußen vor dem Fenster viel Grün, drinnen ist das Rauschen der Straße zu hören ‒ oder ist es schon die Isar?
Karl Stankiewitz ist schon 93, als er im heißen August 2022 daheim in seiner Wohnung im sommerlichen Poloshirt empfängt. Hier stapelt sich Münchner Geschichte in Büchern, Artikeln, Erinnerungen des Hausherrn. An der Wand hängen AZ-Plakate aus den vergangenen Jahren.
Stankiewitz hat 1947 die erste Münchner Schülerzeitung nach dem Krieg gemacht, ging dann als Volontär zur “Süddeutschen”, gehörte zur allerersten Mannschaft der AZ. Später war er jahrzehntelang München-Korrespondent für viele deutsche Zeitungen, er schrieb Bücher über die Geschichte der Stadt ‒ und bis in jenen heißen August 2022 hinein auch immer wieder für die AZ.
Es sind jene Wochen, in denen die Stadt sich zum 50-Jahre-Jubiläum an die Sommerspiele 1972 erinnert. Natürlich ist Stankiewitz da als AZ-Autor gefragt. Es ist wie so oft, wenn es um Münchner Zeitgeschichte geht. Der Mann hat ein unglaubliches Gedächtnis, ein unglaubliches Archiv ‒ und er ist selbst schon als Beobachter und Reporter überall dabei gewesen.
AZ-Reporterlegende Karl Stankiewitz: “Der totale Workaholic”
In jenem August 2022 zieht Stankiewitz seine Lebensbilanz. Er ist im Gespräch hellwach, aber man kann spüren, wie schwer es ihm fällt, nun, wie soll man es bei einem 93-Jährigen sagen, ja, in den Ruhestand zu gehen. “Er ist der totale Workaholic”, sagt sein Sohn Thomas Stankiewicz da mit einer Mischung aus Bewunderung und Sorge. Aber Karl Stankiewitz, sagt, das Herz mache nicht mehr mit, die Augen, er müsse mehr auf seine Gesundheit achten.
Doch Stankiewitz ist nicht nur ein Chronist der Vergangenheit, er verliert auch nie das Interesse am München von heute und morgen. Man kann ihn auch weit jenseits der 90 immer wieder bei Veranstaltungen auftauchen sehen ‒ und natürlich auch vorne im Gasthaus Isarthor, wo der Ober ihm mittags schon seinen Schnitt hinstellt, bevor er sich hingesetzt hat.
Und Stankiewitz sagt, dass ihn München immer auch jenseits der Klischees interessiert habe, mehr als Strauß und Wiesn und Schickimicki. Dem vielen Zuzug will er anders als viele andere Alte durchaus auch Gutes abgewinnen. Einst sei der Münchner doch eigentlich ein muffiger, konservativer Typ gewesen, sagt er 2022. Heute sei man viel offener und kosmopolitischer.
Karl Stankiewitz macht Schluss ‒ Natürlich konnte das nicht ganz stimmen
Er hat diese Entwicklung beobachtet und beschrieben ‒ von hier oben von seinem Schreibtisch aus, den er, wie er erzählt “noch zu Kriegszeiten” (!) an der Maximilianstraße gekauft habe.
Natürlich gehört zur Wahrheit, dass Karl Stankiewitz auch nach diesem August 2022 nicht aufgehört hat zu arbeiten, wie hätte er es auch können. Regelmäßig kommen bei seinen Bekannten – und in der AZ-Redaktion – weiter seine inspirierenden “Gedankenblitze” zum Zeitgeschehen an, E-Mails mit allem, was ihn umtreibt.
Er beginnt noch Buchprojekte, auch wenn er selbst sagt, dass er sie wohl nicht mehr zu Ende würde bringen können. Im Oktober 2022 nimmt das Haus der Bayerischen Geschichte seine Lederhose als Exponat in die Dauerausstellung auf ‒ er hatte sie gleich nach der Währungsreform im Tal gekauft.
Aber der Alltag, er wird nun immer beschwerlicher. “Ich habe ihn sehr bewundert für sein Durchhaltevermögen”, sagt sein persönlicher Freund, der Kabarettist Christian Springer, am Sonntag im Gespräch mit der AZ. “Er hat nie gejammert.”
Springer kann sehr warmherzig erzählen von seinen Gesprächen mit Stankiewitz, der ihn bei vielen erinnerungspolitischen Projekten in der Stadt unterstützt hat. Springer berichtet dann von Besuchen in der Altbauwohnung im Lehel, Stankiewitz habe Platzerl gekauft gehabt, einen Tee gekocht.
Springer ist wichtig, dass man Stankiewitz unrecht tue, wenn man ihn, der sich noch bildlich erinnern kann, wie drei GIs im Jeep drüben an der Maxbrücke das Viertel befreit hätten, “nur” als großen Chronisten der Münchner Stadtgeschichte sieht. Stankiewitz hat auch die Welt bereist ‒ und habe sich immer für die Welt interessiert.
Springer hat Stankiewitz auch im persönlichen Gespräch als einen wahren Journalisten erlebt. Er selbst, sagt Springer, habe sich oft so sehr aufgeregt über dieses oder jenes, wenn sie über Politik gesprochen hätten.
“Aber er hat die Dinge dann einfach und klar beschrieben, wie sie sind.” Für ihn persönlich, sagt Springer, sei das Vermächtnis von Karl Stankiewitz, dass er immer einstehen werde für die Demokratie. “Ohne Journalismus gibt es keine Demokratie”, das sei einer der wichtigsten Sätze von Stankiewitz gewesen.
So ähnlich hat Springer das auch schon im Herbst 2023 gesagt. Ein Jahr, nachdem Stankiewitz aufgehört hatte, für die AZ zu schreiben. Da hat der große München-Chronist zu seinem 95. Geburtstag noch mal alle eingeladen, natürlich heim ins Lehel, in die Augustiner-Wirtschaft Liebighof.
Karl Stankiewitz geht es da schon spür- und hörbar schlechter, er spricht selbst von “einer Art Abschlussparty mit Lebensabschlussbilanz”, erzählt sehr persönlich, wie ihn Langeweile geplagt habe, wie sehr ihm Theater, Vorführungen, Filme fehlen würden, die er aus gesundheitlichen Gründen jetzt nicht mehr besuchen könne.
Vergangene Woche nun ist Karl Stankiewitz einen Tag nach seinem letzten “Gedankenblitz” mit 96 Jahren gestorben ‒ es war seine eigene Entscheidung. Er habe das Leben “aus gesundheitlichen und aktuell weltanschaulichen Gründen verlassen”, schreibt er in einem letzten Brief an seine Wegbegleiter (siehe Kasten) ‒ und äußert bedrückt seine Sorgen um den Zustand der Demokratie.
“Lassts eich das Augustinerbier schmecken!”, so hatte er es ganz am Ende seiner persönlichen Abschiedsparty im Liebighof den Münchnern mitgegeben, “auch wenn ich ein paar Wermutstropfen nei hab.”
Wie sein Sohn Thomas Stankiewicz mitteilt, wird die Trauerfeier für Karl Stankiewitz um den 23. Januar und am Ostfriedhof stattfinden.