Vertrauensfrage kommt im Januar: Scholz beendet Ampel mit Wumms, es folgt die Schlammschlacht | ABC-Z
Die Ampel-Regierung geht denkbar historisch zu Ende. Bundeskanzler Scholz entlässt Bundesfinanzminister Lindner. Anschließend bezichtigt er den FDP-Chef der Verantwortungslosigkeit und Trickserei. Im Januar will Scholz die Vertrauensfrage im Bundestag stellen – und braucht die Union.
Die Ampelkoalition schreibt zum Abschied Geschichte. Und was für eine: In einem nie dagewesenen Schritt seit Gründung der Bundesrepublik stellt Bundeskanzler Olaf Scholz der FDP den Stuhl vor der Tür. Namentlich den Kabinettsstuhl von Bundesfinanzminister Christian Lindner, der auch Bundesvorsitzender der FDP ist. Lindner verhalte sich “verantwortunglos”, sagt Deutschlands Regierungschef am Abend im Bundeskanzleramt. “Als Bundeskanzler kann ich das nicht dulden.” Scholz macht dabei die Entscheidung zum Bruch am Ukraine-Krieg fest. Lindner habe sich geweigert, die Schuldenbremse auszusetzen um so mehr Hilfen für das von Russland attackierte Land bereitzustellen. Nun will Scholz im neuen Jahr die Vertrauensfrage stellen und so den Weg für Neuwahlen freimachen.
Die persönliche Abrechnung mit Lindner erfolgt nach dem Scheitern des letzten Koalitionsausschusses am Abend. Sie ist beispiellos, gerade aus dem Mund des sonst eher zurückhaltend auftretenden Sozialdemokraten Scholz. Sie dürfte der Auftakt zu einer Schlammschlacht werden, wie sie Deutschland ebenfalls noch nicht am Ende eines Regierungsbündnisses erlebt hat. “Ihm geht es um die eigene Klientel, ihm geht es um das kurzfristige Überleben der eigenen Partei”, sagt Scholz über Lindner. “Solch ein Egoismus ist vollkommen unverständlich.”
Zudem bezichtigt der Kanzler Lindner des wiederholten Falschspiels. Der FDP-Chef habe sich mit seinen jüngsten wirtschaftspolitischen Forderungen “nicht anständig und nicht gerecht” verhalten. Scholz sagt in der offensichtlich vor dem Koalitionsausschuss vorbereiteten Rede über seinen bisherigen Finanzminister, dieser habe “zu oft hat er mein Vertrauen gebrochen.”
Lindner wirft Scholz kalkulierten Koalitionsbruch vor
Als sich Lindner etwas später der Presse stellt, wirkt er überrumpelt von den Ereignissen. Der Kanzler habe “ultimativ von mir verlangt, die Schuldenbremse des Grundgesetzes auszusetzen. Dem konnte ich nicht zustimmen, weil ich damit meinen Amtseid verletzt hätte”, sagt Lindner. Das vorbereitete Statement von Scholz wertete Lindner als Beleg, dass Scholz es im Koalitionsausschuss auf einen “kalkulierten Bruch der Koalition” angelegt habe. Er selbst habe dem Land mit seinem in der vergangenen Woche öffentlich gewordenen Wirtschaftspapier Impulse geben wollen, sagte Lindner. “Diese Vorschläge wurden von SPD und Grünen nicht einmal als Beratungsgrundlage akzeptiert. Wir wissen seit dem genau vorbereiteten Statement von heute Abend, warum.”
Der Auftritt beider Kontrahenten, vormals Kabinettskollegen, zeigt, worum es vor allem geht an jenem jetzt schon historischen Abend des 6. November 2024: Um die Deutungshoheit, wer die Schuld am Scheitern des einst so ambitionierten Regierungsbündnisses trägt – der ersten Dreierkoalition in der deutschen Nachkriegszeit. Lindners Wirtschaftswende-Papier wurde im politischen Berlin als Scheidungsurkunde gelesen. Die Parallelen zum Bruch der sozial-liberalen Koalition 1982 waren offensichtlich. Zu weitgehend waren die Forderungen Lindners, zu unvereinbar mit den Positionen von SPD und Grüne. Sei es der Abbau von Sozialleistungen, Steuererleichterungen für Spitzenverdiener oder die Verwässerung der deutschen Klimaziele.
Scholz beteuert Zugehen auf FDP-Wünsche
Am Abend nach dem überraschend deutlichen Wahlsieg Donald Trumps in den USA aber hat plötzlich nicht mehr Lindner das Heft des Handelns in der Hand. Es ist der öffentlich fast immer als zögerlich wahrgenommene Scholz, der eine Entscheidung erzwingt: Er habe der FDP einen Plan zur Stärkung der Wirtschaft und Industrie vorgelegt, der auch Forderungen der Freidemokraten enthalte, sagt Scholz. Aber eben auch mehr Geld für die Unterstützung der unter massiver russischer Bedrängnis stehenden Ukraine.
Die Bundesregierung geht fest davon aus, dass Trump die US-Hilfen für das Land zurückfahren wird. Um diese Summen zu mobilisieren, wollte Scholz – wie es seine SPD schon so lange von ihm fordert – die Schuldenbremse ausgesetzt wissen. Als Lindner ablehnt, ergreift Scholz die ultimative Maßnahme: “Dann müssen wir es ohne Sie machen”, soll Scholz zu Lindner gesagt haben, wie SPD-Chefin Esken bei ntv berichtet. Der sei dann aufgestanden und gegangen. Seine Partei nimmt der FDP-Vorsitzende gleich mit, die Ampel ist aus und Scholz greift zur vorbereiteten Rede für den Fall, dass der Koalitionsausschuss kein Ergebnis bringt.
Union muss sich zu Ampel-Aus verhalten
Überraschenderweise will Scholz aber eben nicht sofort Neuwahlen einleiten. Erst im neuen Jahr, am 15. Januar, möchte er dem Bundestag die Vertrauensfrage stellen. Bekommt er dann keine Mehrheit, kann Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Neuwahlen einleiten. Der 2. März gilt als mögliches Datum, wenn das Bundesland Hamburg ein neues Stadtparlament wählt. Bis dahin aber will der Bundeskanzler noch Gesetzesvorhaben durch Bundestag und Bundesrat bringen: den Ausgleich der kalten Progression, um vor allem mittlere Einkommen zu entlasten, das von der SPD forcierte Rentenpaket, die sich aus der Reform des europäischen Asylsystems ergebenden Neuregelungen und auch Entlastungen für Wirtschaft und Industrie. Wie SPD und Grüne das ohne eigene Mehrheit hinbekommen wollen, ist offen.
Scholz kündigt Gespräche mit der Union an. Deren Kanzlerkandidat Friedrich Merz hatte zuletzt mehr entschlossenes Handeln gefordert, um einen Sieg Putins in der Ukraine zu verhindern. Da Kiew vor allem jetzt Unterstützung braucht, um den Winter zu überleben, gerät Merz unter Zugzwang. Die drohende Welle an Flüchtlingen aus der Ukraine angesichts der dort zerstörten Heizkraftwerke kann auch Merz nicht ignorieren. Scholz könnte es gar auf eine Einbeziehung von CDU und CSU in die Bundesregierung bis zum Wahltag anlegen, etwa in Form einer Minderheitsregierung.
Dergleichen hatte die Union bisher entschieden abgelehnt. Doch das war graue Theorie. Nach dem Ampel-Aus muss sich diese Haltung noch als praxistauglich erweisen. CSU-Chef Markus Söder jedenfalls zeigt wenig Interesse an Gesprächen. Er erklärt von Bayern aus: “Die Vertrauensfrage muss sofort und nicht erst im nächsten Jahr gestellt werden.” Das Problem aus Sicht der Union: Scholz ist der Einzige, der womöglich einen Wahlsieg von Merz verhindern kann. SPD-Chefin Esken beteuert bei ntv, der Amtsinhaber werde auch wieder Spitzenkandidat bei der vorgezogenen Neuwahl: “Das wird Olaf Scholz sein, wir gehen gemeinsam in den Wahlkampf, und wir sind überzeugt, dass wir die Wahl auch gewinnen.”
“Es waren Möglichkeiten auf dem Tisch”
Weniger dramatisch geraten die Einlassungen der beiden Spitzen-Grünen, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock. Der Koalitionsbruch sei nicht “nötig gewesen”, sagt Habeck, der sich kommende Woche zum Spitzenkandidaten seiner Partei küren lassen möchte. “Es waren Möglichkeiten auf dem Tisch”, sagt er mit Blick auf die der FDP unterbreiteten Angebote. Aber auch er zeigt sich kämpferisch. SPD und Grüne wollten in der verbleibenden Zeit bestmöglich weiterregieren. “Die Probleme gehen ja nicht weg, nur weil wir keine eigene Mehrheit mehr haben”, sagt Habeck und sieht ebenfalls CDU und CSU in der Pflicht. “Auch die Union wird sich damit auseinandersetzen müssen.” Barbock und Habeck verzichten auf persönliche Anwürfe.
Als am Abend die Parteispitzen vor ihre Fraktionen treten, ist die Stimmung erleichtert bis euphorisch. Erleichtert, weil die ewige Hängepartie namens Ampel endlich ein Ende hat. Euphorisch, weil es die jeweils eigene Seite der anderen endlich mal so richtig gezeigt hat. Ob das Stimmungshoch unter den Abgeordneten von Dauer ist, wird sich erst in den kommenden Tagen und Wochen zeigen.
Am Ende eines langen Tages, der für die meisten Politiker mit der Beobachtung der US-Präsidentschaftswahl in den frühen Morgenstunden begann, deuten viele Abgeordnete die Unwägbarkeiten der kommenden Monate als Chance. Nach etwas Schlaf dürfte den meisten Beteiligten aber klar werden, dass diese Unwägbarkeiten für das Land vor allem eines bedeuten: noch mehr Unsicherheit in ohnehin schon unsicheren Zeiten.