Verschwinden Dosenkraut und Schmalz bald aus den Supermarkt-Regalen? | ABC-Z
Die Großmutter ist extra angereist, nun wird gemeinsam gekocht. Ein Festtagsessen soll es sein: Entenbraten mit Rotkraut. Das Gänseschmalz gleitet schon in den Topf, löst sich geräuschlos auf. Apfel- und Zwiebelwürfel werden im heißen Fett mit etwas Zucker zischend angebraten, bis sie glasig sind und der Zucker karamellisiert. Dann plumpst das Kraut aus der geöffneten Dose hinterher. Ihm folgen Nelke, Lorbeer, Zimt und Wacholder. Ein Schuss Essig, damit das Kraut seine intensive violette Farbe behält, und ein größerer Schuss trockener Rotwein, damit es auch schmeckt. Und schon riecht die schmale Wohnküche nach Weihnachten. Mit geübtem Griff hieven behandschuhte Hände den Bräter samt Entenbraten aus der Bratröhre, zerteilen ihn und richten ihn zusammen mit Kraut und Klößen an. Nach dem Festmahl sind einige der Gäste träge. Zur Verdauung wird ein Kaffee gereicht – aufgebrüht im Filter, serviert mit Kondensmilch.
Was heute für viele Deutsche die Beschreibung eines typischen Weihnachtsessens ist, könnte schon bald zur Randerscheinung werden. Zumindest entscheidende Details werden sich vermutlich ändern. Denn nach einem Bericht der zu Yougov gehörenden Consumer Panel Services GfK aus dem Juli dieses Jahres sinkt die Nachfrage nach Lebensmitteln wie Sauer- und Blaukrautkonserven rapide. Auch Schmalz, Kaffeefilter und Kondensmilch drohen in den kommenden Jahren zu einer Fußnote der kulinarischen Geschichte zu werden. Einer der Gründe: Die Generation, die diese Produkte am häufigsten nutzt, stirbt aus – die „Wiederaufbauer“. Machte diese Generation 2019 noch einen Anteil von rund 24 Prozent an der Gesamtbevölkerung aus, waren es 2024 schon sechs Prozent weniger. Tendenz fallend.
Schmalz und Gen Z? Fehlanzeige!
Bis heute stehen die Wiederaufbauer (geboren vor 1952) in den Produktkategorien Schmalz, Dosenkraut, Kaffeefilter und Kondensmilch allerdings für riesige Umsatzanteile: 40 Prozent bei Schmalz. Bei den Babyboomern (Jahrgänge 1955– 1969) sind es immerhin noch 36 Prozent. Die nachfolgende Generation X (Jahrgänge 1965–1980) greift deutlich seltener zum Schmalz – sie hält nur 16 Prozent der Umsatzanteile. Millennials (Jahrgänge 1981–1996) machen sogar nur fünf Prozent aus. Und die ganz junge Generation der sogenannten iBrains (Jahrgänge 1997–2011, auch Gen Z genannt) fällt mit nur 0,5 Prozent der Anteile kaum ins Gewicht.
Ähnliches lässt sich auch bei Sauerkraut aus der Dose beobachten: Wiederaufbauer 30 Prozent. Bei der Blaukrautkonserve sind es 22 Prozent. Kaffeefilter und Kondensmilch: 33 und 30 Prozent. Anhaltspunkte für eine Zunahme der Beliebtheit dieser Produkte bei den jüngeren Generationen gibt es keine. Oder um es mit den Worten des Studienautors auszudrücken: „Nichts spricht dafür, dass die Millennials und iBrains im Reifeprozess wieder zum Sauerkraut finden werden.“
Werden die Produkte bald verschwinden?
Wollte man pathetisch sein, könnte man schreiben: Der deutschen Küche drohen zentrale Zutaten abhandenzukommen, eine Art kulinarisches Massensterben. Aber werden diese Produkte gänzlich aus den Supermarktregalen verschwinden? Warum essen die nachfolgenden Generationen so wenig Dosenkraut und Schmalz, warum kaufen sie so selten Kaffeefilter und -sahne? Und was bedeuten diese Entwicklungen für das kulinarische Erbe der Wiederaufbauer?
Anruf bei einem, der es wissen sollte. Robert Kecskes ist Senior Insights Director bei Yougov und Autor der Studie: „Das liegt einerseits an gesellschaftlichen Veränderungen und auf der anderen Seite an einer ökologischen Komponente“, sagt der Forscher. Ein Blick zurück: Gekocht wurde zur Zeit der Wiederaufbauer mit Lebensmitteln, die saisonal in der Region verfügbar waren. Fleisch gab es selten, Reste wurden zu Brühen verarbeitet, und wer auch im Winter Früchte oder Sommergemüse essen wollte, musste einwecken. Man kochte mit dem, was da war. Und Tierfett und Kohl waren eben da. „Es ist eine Küche der Knappheit gewesen“, sagt Kecskes. Und weil kulinarische Inspiration stets im Kontakt mit fremden Essgewohnheiten und Lebensmitteln entsteht, änderte sich lange Zeit – nichts.
Auf Reisen lernten die Deutschen andere Genüsse kennen
Aber der steigende Wohlstand, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einsetzte, führte bei den Deutschen zu einer nie zuvor dagewesenen Mobilität. Reisen wurden für den Durchschnittsbürger erschwinglich. „Schon die Babyboomer, die in der Zeit des Postmaterialismus groß wurden, haben andere Länder kennengelernt: Italien, Frankreich oder Spanien – dadurch kamen dann Nahrungsmittel wie Teigwaren und Paella nach Deutschland. Und die noch Jüngeren haben die Welt kennengelernt, also die asiatische Küche oder die südamerikanische Küche“, sagt Studienautor Kecskes. Und diese neuen „kulinarischen Welten“, wie er sie nennt, wurden von den jüngeren Generationen nach Deutschland gebracht. „Allein deshalb konkurriert die gutbürgerliche deutsche Küche schon mit der Weltbürgerküche.“
Auch das Leben innerhalb der Bundesrepublik ist heute ein anderes als noch zur Zeit des Wiederaufbaus. Die deutsche Wirtschaft hat in den vergangenen 75 Jahren eine Transformation durchlaufen. Nach Informationen des Statistischen Bundesamtes entfiel Ende der Sechzigerjahre noch mehr als die Hälfte der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung hierzulande auf das produzierende Gewerbe. Dieser Anteil ging bis zur Jahrtausendwende auf etwa 30 Prozent zurück und verharrt seither auf diesem Niveau. Auch der Anteil der Land- und Forstwirtschaft hat an Bedeutung verloren. Wurden zu Beginn der Fünfzigerjahre noch rund zehn Prozent der Wertschöpfung in diesem Bereich erwirtschaftet, verringerte sich dieser Anteil auf nur noch gut ein Prozent im Jahr 2022. Gleichzeitig hat der Dienstleistungssektor massiv an Bedeutung gewonnen. Mit knapp 70 Prozent übertrifft dieser Anteil den der anderen Sektoren heute deutlich. Und weil sich die Art und Weise, in der die Menschen ihr Geld verdienen, verändert hat, hat sich auch die Ernährung verändert.
„Man musste früher körperlich schwer arbeiten und brauchte dafür die passende Ernährung. Heute müssen mehr Menschen kognitiv sehr schwer arbeiten, sitzen aber den ganzen Tag und bewegen sich nicht“, sagt Kecskes. Das verändere auch die Ansprüche an die Ernährung. „Es geht nicht mehr darum: Muskeln aufbauen und Hauptsache satt, denn das ist vielleicht für die Maschinenarbeit wichtig, aber nicht in einer Dienstleistungsgesellschaft.“
Auch die Ökologie spielt eine Rolle
Auch das ökologische Bewusstsein der Verbraucher wirkt sich aus. „Heute leben wir in einer Gesellschaft, in der pflanzliche Ernährung immer wichtiger wird. Schmalz hat da wenig Platz.“ Und Kecskes ist überzeugt: Das Thema nachhaltige Ernährung verschwinde nicht mehr, sondern werde weiter an Relevanz gewinnen. Die jüngeren Generationen greifen häufiger zu veganen und vegetarischen Fleisch-Substituten. Sie trinken Kaffee aus kleinen, meist italienischen Espressokannen, die man auf der Herdplatte erwärmen kann, und hellen ihn mit Hafermilch auf. Selbst die ganz jungen iBrains verzichten nicht auf ihren Koffein-Kick. Sie führen ihn sich nur in anderer Form zu, nämlich in der von Energydrinks. Und obwohl die jüngeren Generationen weniger Krautkonserven essen, verzichten sie nicht auf Vitamine. Auf ihren Tellern liegen in der Mittagspause allerdings seltener die Schweinshaxen mit Rotkraut, sondern eher die Sojaschnitzel mit Quinoasalat.
Kulturverlust der deutschen Küche?
Die sinkende Beliebtheit von Lebensmitteln wie Schmalz und Dosenkraut ist aber nicht nur eine Frage der Ernährung. Denn mit Schmalz versetzt, um den Geschmack zu intensivieren, wurden insbesondere traditionelle deutsche Rezepte wie Bayrisch Kraut, dicke Bohnen mit Speck oder eben der Sonntagsbraten. Gerichte mit Kraut waren innerhalb der Bundesrepublik zur Zeit des Zweiten Weltkriegs sogar so omnipräsent, dass die Amerikaner Deutsche als „Krauts“ bezeichneten. „Das sind Dinge, die eigentlich nur noch aus der Geschichte bestehen. Die wir, die Kinder, nur noch selten gekocht haben und die Enkelkinder noch viel seltener kochen“, sagt Kecskes. Droht der deutschen Küche also ein Kulturverlust?
Nein, eher ein Kulturwandel, angestoßen durch Globalisierung und Klimawandel, sagt Kecskes. „Wir sehen einen Übergang von einer relativ homogenen Definition von Essenskultur hin zu ausdifferenzierten diversen Essenskulturen.“ Und dieser Übergang geht auch mit Abschieden einher. Hier müsse man ansetzen: „Man muss es schaffen, diese Verlusterfahrungen zu verwandeln in Lusterfahrungen“, sagt er. Aber wie geht das? Der Forscher meint, um das kulinarische Erbe der Wiederaufbauer zu bewahren, müsse sich die Esskultur dieser Zeit an die veränderten Bedingungen anpassen. Klassisches Sauerkraut zum Beispiel als Beilage zum Fleisch werde kaum überleben, könnte sich aber als deutsches Kimchi mit entsprechender Aufmachung neu erfinden.
Oder Revival des Sauerkrauts?
Kimchi ist ein koreanisches Gericht, das zumeist aus fermentiertem Chinakohl oder Rettich besteht. Ähnlich wie das deutsche Sauerkraut setzt Kimchi auf Milchsäuregärung, um den Kohl haltbar zu machen und ihm einen neuen Geschmack zu verleihen. In Form von Kimchi könnte sich Sauerkraut nach Meinung des Experten aus der Traditionsnische befreien und, gewissermaßen in kosmopolitisierter Form, die jungen Generationen wieder ansprechen.
Manchmal erleben totgesagte Lebensmittel auch ein Revival. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die Forderung des künftigen amerikanischen Gesundheitsministers Robert Kennedy, der jüngst im Wahlkampf unter anderem damit warb, McDonalds dazu zu bewegen, Pommes wieder in Rindertalg statt in Rapsöl zu frittieren. Kecskes meint: „Wenn der Wandel in vollen Zügen eintritt, merkt man auch, was man verloren hat.“ Das führe gelegentlich zu einem Revival. Vielleicht komme ja auch das Sauerkraut eines Tages zurück.
Angst, dass man demnächst im Supermarkt weder das Gänseschmalz für das Kraut noch die Rotkohlkonserve bekommt, muss man sowieso nicht haben – zumindest nach Meinung des Studienautors. Beides werde es weiterhin geben, ebenso Kaffeefilter und -sahne. Denn diese Produkte würden weiterhin nachgefragt, nur seltener als zur Zeit der Wiederaufbauer. Nur zwischen fünf verschiedenen Sorten Dosenrotkraut werden wir in Zukunft nicht mehr wählen können. Alternativen wie frischer Kohl und Tiefkühlgemüse, mit denen sich die Studie gar nicht beschäftigt hat, bleiben davon unberührt.
Selbst wenn also manche Lebensmittel wie Schmalz und Dosenkraut – um es in den Worten von Kecskes auszudrücken – möglicherweise künftig ein „Nischendasein fristen“ werden: In deutschen Haushalten wird es an Weihnachten sicherlich weiterhin nach Zimt, Nelke, Lorbeer und Wacholder riechen. Vielleicht in manchen aber auch nach süßlich-scharfem Sauerkraut-Kimchi.