Kultur

Vergleichsweise stressvoll: Musik von Pierre Boulez | ABC-Z

Als Dirigent des Bayreuther Jahrhundert-“Rings” von 1976, einer Aufnahme von “Parsifal” und als Urheber markiger Sprüche wie “Schönberg ist tot” oder “Sprengt die Opernhäuser in die Luft” ist Pierre Boulez wohl jedem ein Begriff, der mit der Klassischen Musik etwas enger in Berührung gekommen ist. Als Mahler-Dirigent hatte der vor 100 Jahren in Montbrison an der Loire geborene und 2016 in Baden-Baden gestorbene Komponist eine erstaunliche Spät-Karriere, die ihn sogar ans Pult der Wiener Philharmoniker brachte, was in seiner mittleren Lebensphase absolut undenkbar gewesen wäre.

Man muss sich allerdings wirklich für Neue Musik interessieren, um ein Werk von Boulez im Konzert zu hören. Selbst die musica viva des Bayerischen Rundfunks hat seine Werke in den letzten Jahrzehnten vergleichsweise selten gespielt. Anlässlich des 100. Geburtstags gastierte nun das französische Orchester Le Siécles unter dem hochkompetenten und in seiner Gestik etwas an den Komponisten erinnernden Franck Ollu im Prinzregententheater – auf Einladung der Ernst von Siemens Musikstiftung. Eine Initiative, die übrigens nicht genug gelobt werden kann, weil die Karten so wenig kosten, dass die Preise niemanden abhalten, Boulez zu hören, wenn man Boulez hören will.

Dass seine Musik selten gespielt wird, hat auch mit dem Aufwand zu tun. Beim Stück “Éclat/Multiples” aus dem Jahr 1970 spielt der Pianist höchstens eine Minute lang auf einem zweiten Klavier, ohne dass auch dezidierte Experten und Klavierpraktiker ohne Blick in die Partitur sagen könnten, warum das Instrument gewechselt werden muss. Ähnlich verhielt es sich bei “Pli selon pli” mit den drei Harfenistinnen, für die fünf verschiedene Instrumente auf dem Podium standen.

Franck Ollu und Les Siécles im Herkulesaal.
© Severin Vogl/BR
Franck Ollu und Les Siécles im Herkulesaal.

von Severin Vogl/BR

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Aber wir wollen Klavierstimmern und -transporteuren ihre Einnahmen nicht missgönnen. Mindestens so anstrengend wie die damit verbundene Logistik ist die Musik selbst. “Éclat/Multiples” besteht überwiegend aus kurz angeschlagenen Akkorden, auf die wieder andere Akkorde echoartig antworten. Das kann einen gewissen Sog erzeugen. Und immer wieder rätselt man über einen tiefen Ton, der anfangs nach einer E-Gitarre klingt. Die wäre Boulez aber zu banal gewesen. Nein, so stellt sich nach einiger Zeit heraus, es ist ein in der Neuen Musik seit Bartók nicht unbeliebtes Zymbal.

Im zweiten Satz tritt zum Klavier, den Bläsern und viel verhaltenem Schlagzeug eine Bratschengruppe hinzu, die sich mit scharf gezackten Melodiefragmenten in den Vordergrund arbeitet. Dann dominiert sie für Sekunden, ehe das Stück rasch zu Ende geht.

Auf dieses Ensemblewerk folgte “Pli selon pli” für großes Orchester und Koloratursopran. Allein diese Besetzung signalisiert, dass es Boulez auf die Wortverständlichkeit der von ihm vertonten Gedichte von Stephané Mallarmé nicht ankam. Und über die lässt sich vor allem sagen, dass sie maximal kunstvoll und bei aller Rätselhaftigkeit latent homoerotisch sind, was jedoch nie an die Oberfläche getragen wird.

Die Musik hüllt beziehungsreiche Worte und Laute in ein komplexes Geflecht. Es reicht nie aus, einer Linie allein zu folgen, weil es immer noch eine zweite und dritte gibt. Trotz der Anwesenheit vieler Schlagzeuger zielt die Komposition nie auf das Zwerchfell, sondern immer nur auf feinere Organe. Die sonst stiefmütterlich behandelte Celesta hat ein langes Solo, sechs Kontrabassisten (m/w/d) haben sehr wenig zu tun, weil die Musik vor allem hell, licht und kristallin ist.

Die Sängerin Sarah Aristodou mit dem Dirigenten Franck Ollu
Die Sängerin Sarah Aristodou mit dem Dirigenten Franck Ollu
© Severin Vogl/BR
Die Sängerin Sarah Aristodou mit dem Dirigenten Franck Ollu

von Severin Vogl/BR

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Irgendwann hat man alles gehört und gleichzeitig auch nicht, weil Boulez so gut wie nie etwas wiederholt, sondern immer nur unablässig weiterentwickelt. Dann geschieht erstaunliches: Das letzte Stück, “Tombeau” beginnt wie ein Trauermarsch. Nicht wie der von Chopin. Nein, sondern so verhalten und auf einer Meta-Ebene wie jener aus Anton Weberns Orchesterstücken op. 6. Nach einer Stunde musikalischem Glasperlenspiel wird die Musik maßvoll konkret. Sie ballt und verdichtet sich. Eine böse Zunge meinte anschließend, ein leicht ermüdeter Boulez habe zu später Stunde nach einer Flasche Rotwein, die Strenge hinter sich gelassen.

Man weiß es nicht, ob Flecken auf den Skizzen diese Theorie beweisen. Aber soviel kann gesagt werden: Boulez ist wie bestimmte Bergtouren mit langem Talhatscher: trotz toller Momente sehr, sehr anstrengend. Irgendwo auf dem Weg schwört man, es nie wieder machen zu wollen. Und doch entsteht am nächsten Tag das Gefühl, man müsse die Tour wiederholen, um der Sache ganz auf den Grund zu gehen.

Am 22. März dirigiert Simon Rattle in der musica viva “Cummings der Dichter” von Pierre Boulez. Das Konzert im Herkulessaal ist bereits ausverkauft

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