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Vergewaltigungsprozess: „Gisèle Pélicot ist eine Vorreiterin und für viele ein Vorbild“ | ABC-Z

Gisèle Pélicot will nicht nur Opfer sein und macht den eigenen Vergewaltigungsprozess öffentlich. Bilder der Tat mit den klar erkennbaren Angeklagten werden gezeigt, ganz Frankreich spricht darüber. Rechtsanwältin Christa Luise Schillmann erklärt, warum das auch in Deutschland Vorbild werden könnte.

Der Fall Gisèle Pélicot sorgt weit über Frankreich hinaus für Aufsehen: Pélicot soll über mindestens zehn Jahre hinweg regelmäßig von ihrem Ehemann mit dem Beruhigungsmittel Lorazepam betäubt und anderen Männern zur Vergewaltigung überlassen worden sein. Die Taten sind durch mehr als 20.000 Dokumente, Fotos und Videos dokumentiert. Von den mehr als 80 Tätern, die Dominique Pélicot online kontaktierte, wurden bislang 51 identifiziert und angeklagt.

Christa Luise Schillmann ist Rechtsanwältin für Strafrecht und Opferanwältin des Weißen Rings. In sexualstrafrechtlichen Prozessen vertritt sie meistens die mutmaßlichen Opfer, hat aber auch schon mutmaßliche Täter verteidigt.

WELT: Frau Schillmann, Gisèle Pélicot bestand darauf, dass ihr Prozess in aller Öffentlichkeit geführt wird. So solle die „Scham die Seite wechseln“. Welche Rolle spielt Scham bei sexualstrafrechtlichen Prozessen?

Christa Luise Schillmann: Oft schämt sich das Opfer, wenn Fremde Videos wie die Vergewaltigungsvideos im Fall Pélicot zu sehen bekommen. Wenn das Opfer dem Ausschluss der Öffentlichkeit widerspricht, heißt das, der mutmaßliche Täter sollte sich schämen, solche Aufnahmen überhaupt produziert zu haben und darin eine Rolle zu spielen – nicht das mutmaßliche Opfer.

WELT: Ist ein öffentlicher Prozess etwas, das Sie einer Mandantin raten würden?

Schillmann: Das kann man pauschal nicht sagen. Das kommt auf die Mandantin und ihre Verfassung an. Es gibt Mandantinnen – das ist der überwiegende Teil in dem Bereich –, die besonders geschützt gehören. Diese können, wenn zu viele Personen im Gerichtssaal sitzen, ihre Aussage nicht vernünftig machen, weil das zu traumatisierend ist. Die allermeisten Opfer haben ein sehr, sehr hohes Schamempfinden und Schuldgedanken in sich. Bei solchen Prozessen werden extrem intime Details einer traumatischen Situation angesprochen. Für die meisten ist es besser, wenn die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird.

WELT: Was ist beim Fall Pélicot anders?

Schillmann: Vielleicht, dass der Ausschluss oder der Nichtausschluss der Öffentlichkeit gar keinen riesigen Unterschied macht: An dem Prozess sind mehr als 50 Angeklagte beteiligt, alle mit mindestens einem, vielleicht zwei Verteidigern, außerdem die Richter – in Deutschland wären das fünf –, die Vertretung der Staatsanwaltschaft und die Nebenklägerin mit ihren Vertretern, manchmal noch Praktikanten. Wenn da sowieso schon 150 Personen sitzen, macht es für das Gefühl des Opfers vielleicht keinen Unterschied mehr, ob die Öffentlichkeit auch noch da ist.

WELT: Wie viele Personen sind an einem solchen Prozess mindestens beteiligt, wenn es nur einen einzelnen Täter gibt?

Schillmann: In so einem Fall gibt es in Deutschland mindestens: drei Richter, zwei Schöffen, einen Staatsanwalt, einen Protokollführer, den Angeklagten mit meistens zwei Verteidigern und das Opfer und ihre Anwältin. Da sind wir bei ungefähr zehn bis zwölf Personen. Das ist dann ein sehr intimer Prozess.

WELT: Sehen Sie weitere potenzielle Gründe, aus denen es nicht häufiger öffentlich ausgetragene Vergewaltigungsprozesse gibt, bei denen „die Scham die Seite wechselt“?

Schillmann: Möglicherweise spielt Pélicots Alter eine Rolle: Sie wird sich beispielsweise nicht noch einmal auf einen Job bewerben müssen. Jemand, der noch am Anfang seines Lebens steht, weiß, dass er bei einem öffentlich ausgetragenen Prozess noch zig Jahre im Internet unter diesem Prozess gefunden wird. Die Geschichte beziehungsweise das dazugehörige Gesicht gerät nicht mehr in Vergessenheit.

WELT: Wie ist das in Deutschland: Werden Vergewaltigungsfälle normalerweise öffentlich oder unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt?

Schillmann: Der Paragraf 171 b des Gerichtsverfassungsgesetzes, der das regelt, hat mehrere Absätze. Diese Absätze beschreiben ein Kann, ein Soll und ein Muss. Ein Prozess ist erst einmal immer öffentlich – es sei denn, es gilt eine dieser Ausnahmen:

Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden, wenn schutzwürdige Interessen von Anderen entgegenstehen. Bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder Tötungsdelikten soll die Öffentlichkeit, auf Antrag muss sie ausgeschlossen werden.

Wenn die Person, deren Lebensbereich betroffen ist, – so wie es bei Gisèle Pélicot der Fall war – dem Ausschluss der Öffentlichkeit aber widerspricht, findet der Prozess auch in Deutschland öffentlich statt. Es ist auch möglich, dass die Öffentlichkeit nur von bestimmten Teilen der Verhandlung ausgeschlossen wird.

WELT: Der Fall hat in Frankreich den Begriff „chemische Unterwerfung“ aufgeworfen: eine Vergewaltigung, bei der Medikamente oder Drogen im Spiel sind. Existiert in Deutschland ein Straftatbestand dafür?

Schillmann: Im Paragrafen 177 des Strafgesetzbuches wird in Deutschland die Vergewaltigung geregelt. Darunter fallen auch mehrere Tatbestände, die zu einer „normalen“ Vergewaltigung hinzukommen können: Zuerst haben wir das Ausnutzen der Bewusstlosigkeit, unter der das Opfer keinen entgegenstehenden Willen bilden kann. Ein zweiter Tatbestand ist mit der Verwendung eines „gefährlichen Werkzeuges“ erfüllt. Jemanden unter Medikamenteneinfluss zu setzen, ist in dem Sinne die „Verwendung eines gefährlichen Werkzeuges“. Beides erhöht die Strafe.

WELT: Viele der mutmaßlichen Täter im Fall Pélicot berichten von schwierigen Biografien. Inwieweit wirkt sich das mildernd auf das Strafmaß aus?

Schillmann: Eher nicht. Trotz einer schweren Kindheit muss ich mich ordentlich im Rechtsverkehr verhalten. So etwas wird von den Strafrichtern oft als Ausrede gesehen.

Außerdem: Wenn ich wirklich eine so schwere Kindheit gehabt hätte, die zu derart gravierenden Auswirkungen hätte führen können, muss eigentlich die Frage gestellt werden: Liegt hier eine „schwere seelische Störung“ vor, also eine psychische Krankheit? In dem Fall sind wir zwar bei einer schuldlosen Handlung, aber bei einer Gefahr für die Allgemeinheit. Dann kann eine Sicherheitsverwahrung angeordnet werden. Damit sind Verteidiger also normalerweise sehr vorsichtig.

Anders könnte das aussehen, wenn die schwere Kindheit unmittelbar zur Tat geführt hat, weil dann die Tat nachvollziehbarer ist. Zum Beispiel: Ein Kind wird vom Vater jahrelang schwer misshandelt und wehrt oder rächt sich.

WELT: Mehrere Tatverdächtige haben ausgesagt, sie hätten nicht gewusst, dass Pélicot bewusstlos war. Sie hätten gedacht, sie schlafe. Gilt hier: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht?

Schillmann: Mit diesem Sprichwort ist eher gemeint: Ich weiß nicht, dass etwas verboten ist, aber das schützt mich nicht vor der Strafe. Ich weiß nicht, dass das Opfer keinen Willen hat, ist etwas anderes, – weil ich trotzdem weiß, dass eine Vergewaltigung verboten ist. Deswegen würde ich nicht sagen, dass das Sprichwort hier den Fall trifft.

Mein Ehemann, mit dem ich ein intaktes Sexualleben führe, darf mich im Schlaf ankuscheln. Wenn ich aufwache und ihn wegstoße, war das bis dahin nicht unbedingt eine sexuelle Belästigung, – weil er davon ausgehen kann, dass er mich im Schlaf ankuscheln darf, weil wir ein gewisses intimes Verhältnis zueinander haben. Wenn man aber kein Verhältnis zu dem Opfer hat – wie die mutmaßlichen Täter im Fall Pélicot –, kann man nicht von einem generellen Willen zur Nähe beziehungsweise zum Einverständnis ausgehen.

WELT: Eine letzte Frage zu den mutmaßlichen Tätern: Mehrere gaben an, sie seien von Dominique Pélicot in die Tat „reingeredet“ worden. Lässt sich so ein Teil der Verantwortung für die Tat abgeben?

Schillmann: Das würde ich nicht sagen. Wenn ich die Handlung ausführe, führe ich die Handlung aus – insbesondere, wenn der andere Täter, Monsieur Pélicot, keine Macht über mich hat. Anders sieht das nur aus, wenn meine Freiwilligkeit herabgesetzt ist, beispielsweise durch eine Drohung.

WELT: Es wird viel darüber gesprochen, die Tatverdächtigen im Fall Gisèle Pélicot seien „normale Männer“ unterschiedlicher Alters- und Berufsgruppen mit diversen sozioökonomischen Hintergründen. Haben Sie die Erfahrung gemacht, dass es einen „Prototyp“ Täter gibt?

Schillmann: Aus meiner Erfahrung muss ich auch eher sagen: Jeder Mann könnte ein Täter sein.

WELT: Gehen Sie davon aus, der Fall Pélicot könnte Auswirkungen für Deutschland haben – strafrechtlich oder gesellschaftlich?

Schillmann: In den vergangenen Jahren kam es ohnehin immer wieder zu Verschärfungen des Sexualstrafrechts: Normen werden härter ausgelegt, es kommen neue Tatbestände hinzu und Strafrahmen wurden verschärft. Auch die Gesellschaft denkt über sexuelle Belästigung und sexuellen Missbrauch ganz, ganz anders als noch vor zehn Jahren. Das kann durch einen solchen Fall weiter zunehmen – das ist aber schwer vorauszusagen.

Ich denke, dass Gisèle Pélicot eine Vorreiterin ist und für viele ein Vorbild. Aus diesem Grund kann ich mir vorstellen, dass in Zukunft weitere Prozesse in diesem Bereich unter der Öffentlichkeit stattfinden.

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