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Venedig: War der Markuslöwe einst eine Drachenstatue aus China? – Wissen | ABC-Z

Venedig ist eine stolze Stadt und zeigt das auch. Wer den Markusplatz vom Wasser her betritt, gerät ins Staunen. Der Dom, der Dogenpalast, gegenüber die prächtige Nationalbibliothek! Und dazwischen die zwei Säulen, auf denen Bildnisse der städtischen Schutzheiligen stehen: westlich der heilige Theodor, östlich der geflügelte Löwe, das Attribut des heiligen Markus. Er ist das Wahrzeichen Venedigs schlechthin. Doch ausgerechnet dieser Löwe könnte ursprünglich gar kein Löwe gewesen sein: Italienischen Forscherinnen und Forschern zufolge ist das Stück vielmehr eine umgebaute Drachenstatue aus China.

Dass der bronzene Löwe wohl Importware ist, gilt schon länger als wahrscheinlich. Zu fremd wirkt der Stil. Schriftliche Quellen über die Herkunft der Figur gibt es keine; bislang vermutete man als Ursprung Kleinasien oder Syrien. War die Figur womöglich einst ein Greif oder eine Chimäre gewesen, ein Mischwesen, dem man später Flügel angeheftet hat?

Ein Team um den Geowissenschaftler Gilberto Artioli von der Università degli Studi di Padova trägt nun eine andere Idee vor: Der Löwe könnte ursprünglich ein chinesischer Drache gewesen sein, genauer: ein Grabwächter, Zhènmoùshòu genannt, aus der Zeit der Tang-Dynastie von 618 bis 907 westlicher Zeitrechnung. Diese Figuren haben zwar oft Hörner, flammende Mähnen oder teils sehr große Ohren, doch in anderen Details sind sie tatsächlich dem Markuslöwen ähnlich, etwa was die Form der Schnauze oder die Augen angeht.

Chinesische Grabwächter-Figuren aus der Tang-Dynastie gibt es in unterschiedlichen Formen. Sie flankierten einst paarweise Eingänge zu Gräbern. (Foto: IMAGO/piemags)

Für diese These spricht: Der venezianische Löwe weist Bearbeitungsspuren auf, wo einmal Hörner gewesen sein könnten. Und: Proben von den ältesten Kupferteilen des Löwen ähneln chemisch Erzen aus der Provinz Anhui am Unterlauf des Jangtsekiang.

Wurden der Figur Hörner und übergroße Ohren abgefeilt, damit sie zum Löwen werden konnte?

Ist das Rätsel um die Herkunft des Löwen damit gelöst? Falls ja, ergibt sich jedoch gleich das nächste: Warum kam vor mehr als 750 Jahren eine solche Figur aus China an die Adria? Und wie?

Vielleicht über Konstantinopel, meint das Team um Artioli. Von dort stammen die beiden Säulen, auf denen die Figuren in Venedig stehen. Doch falls diese Theorie stimmt: Wie war der Löwe dann aus China nach Konstantinopel gekommen?

Die Löwenfigur steht in Venedig auf einer Säule zwischen Dogenpalast (links) und Nationalbibliothek.
Die Löwenfigur steht in Venedig auf einer Säule zwischen Dogenpalast (links) und Nationalbibliothek. (Foto: Copyright: xscaligerx via imago-/IMAGO/Depositphotos)

Möglich ist auch, dass eine berühmte venezianische Kaufmannsfamilie dahintersteckt. Niccolò und Maffeo Polo, Vater und Onkel von Marco Polo, waren in den 1260er-Jahren am Hof des Kublai Khan. In jener Zeit avancierte der Löwe zum Wappentier Venedigs. Haben die Kaufleute in Fernost eine jener Drachenstatuen  gesehen? Griffen sie zu? Ließen sie das Stück in den fernen Westen bringen? Wurden ihm Hörner und Ohren abgefeilt, wurden andere Teile ergänzt – und wurde das Ergebnis schließlich zum Symbol Venedigs?

Das sind viele Fragezeichen. Das Team um Artioli hat seine Analyse bereits 2024 bei einer Konferenz vorgetragen, nun ist sie in der Fachzeitschrift Antiquity erschienen. Sicher sind sich die Forscher aber noch immer nicht: Die Historiker seien am Zug, schreiben sie. Ob jemals Schiffspapiere, Zolldokumente, Kassenzettel oder andere Belege aus den 1260er-Jahren auftauchen werden, dürfte aber fraglich sein. Klar ist zumindest: Selbst wenn die Figur vielleicht made in China ist, ein Billigimport war sie kaum.

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