USA: Jimmy Carter wird 100 – mit Ehrgeiz und Bescheidenheit – Politik | ABC-Z
Jimmy Carter ist zeit seines langen Lebens ein ehrgeiziger Mensch gewesen. Wie sonst hätte es der Sohn eines mittelmäßig erfolgreichen Erdnussfarmers aus den Südstaaten der USA zuerst zum Offizier in Amerikas damals nagelneuer ultramodernen Atom-U-Boot-Flotte gebracht, später zum Gouverneur seines Heimatstaates Georgia und schließlich sogar, von 1977 bis 1981, zum 39. Präsidenten der Vereinigten Staaten? Wer da nun annehmen würde, dieser tief wurzelnde Ehrgeiz hätte den 99-Jährigen auch noch angetrieben, trotz aller gesundheitlichen Probleme, trotz altersbedingter Stürze und einer Krebsdiagnose so lange durchzuhalten, dass er seinen 100. Geburtstag feiern kann, der liegt sicher nicht ganz falsch – aber doch aus anderen Gründen, als man auf Anhieb wohl denken mag.
James Earl Carter, genannt „Jimmy“, geboren am 1. Oktober 1924 im verschlafenen Landstädtchen Plains, wird an diesem Dienstag 100 Jahre: So alt wurde vor ihm tatsächlich noch kein früherer US-Präsident. Doch wie sein Sohn James Earl Carter III, genannt „Chip“, der Washington Post jetzt zu Protokoll gab: „Der 100. Geburtstag? Er sagt, der ist ihm egal.“ Worauf es ihm wirklich ankomme, sei ganz etwas anderes: Er wolle seine Stimme noch für Kamala Harris als Präsidentschaftskandidatin seiner Partei, der Demokraten, abgeben. Das Ziel dürfte er inzwischen erreicht haben, die Briefwahl läuft bereits in Georgia.
Die Kandidatenrede von Kamala Harris lobte Carter als „großartig“
Diese von der Familie gewiss nicht zufällig verbreitete Anekdote weist auf mindestens drei Charakterzüge Carters hin, die er immer wieder gezeigt hat: seinen bereits erwähnten Ehrgeiz, gepaart allerdings mit einer legendären, an Selbstverleugnung grenzenden Bescheidenheit – nicht sein Geburtstag ist ihm wichtig, sondern die Stimme für die Kandidatin der Demokraten – und eben einer enormen politischen Energie. Er hat, so weiß es sein Sohn zu berichten, jede einzelne Rede der Wahlkonvention der Demokratischen Partei in Chicago Ende August gesehen. Am meisten gefiel ihm der Auftritt der früheren First Lady Michelle Obama, aber auch die Kandidatenrede von Kamala Harris lobte er als „großartig“.
Vor 19 Monaten hatte sich Carter, schwer erkrankt und auf den Rollstuhl angewiesen, zusammen mit seiner Frau Rosalynn daheim in Plains in Hospizpflege begeben. Sie starb im vergangenen November. Seine Familie erwartete offenbar, dass er ihr bald folgen würde. Doch Carter nahm weiterhin Anteil am Geschehen, verfolgte Sportereignisse und zuletzt den Wahlkampf mit wachsendem Interesse.
Der jähe Aufschwung seiner Partei scheint Carter sogar noch einmal frischen Elan zu verschaffen. Er hofft, dass sich eine erneute Wahl von Donald Trump ins Weiße Haus verhindern lässt, weil er als ein zutiefst integrer Mensch den Republikaner moralisch für ungeeignet hält, das höchste Amt Amerikas auszuüben. Vieles störe ihn an Trump, so sagte Carter, doch am meisten der Umstand, dass Trump ein notorischer Lügner sei.
Über Carters Präsidentschaft stand kein guter Stern
Carter hatte den Amerikanern 1976 im Präsidentschaftswahlkampf versprochen, ihnen nie die Unwahrheit zu sagen – eine Zusage, an die sich Carter als tiefgläubiger Baptist ein Leben lang gebunden fühlte. Es war kein Zufall, dass ihn die Amerikaner damals wählten. Sie hatten genug von den Republikanern und Präsident Richard Nixon, der 1974 nach dem Watergate-Skandal hatte zurücktreten müssen. Er hatte politische Gegner abhören lassen, Einbrüche angeordnet und in der Öffentlichkeit wiederholt gelogen.
Doch über Carters Präsidentschaft stand kein guter Stern. Zwar feierte er außenpolitisch bemerkenswerte Erfolge: Er schloss mit der Sowjetunion den Salt-II-Vertrag zur Begrenzung des nuklearen Langstrecken-Raketenarsenals ab. Und er setzte im Camp-David-Abkommen den historischen Friedensschluss zwischen Israel und Ägypten durch.
Zu Hause aber wurde er rasch unpopulär. Auf eine drohende Energieknappheit aufgrund der Politik der Erdöl produzierenden Länder reagierte er mit Sparappellen (und Solarzellen auf dem Dach des Weißen Hauses) und drohte mit Benzinrationierungen. Er bekam eine zweistellige Inflation nicht in den Griff. Die Arbeitslosenquote stieg genauso wie der Hypothekenzins für Hausbesitzer – eine verheerende Mixtur. Im Wahlkampf 1980 fragte sein republikanischer Herausforderer Ronald Reagan seine Landsleute, ob es ihnen wirtschaftlich besser gehe als vier Jahre zuvor. Die Antwort lag auf der Hand. Carter musste nach nur einer Amtsperiode das Weiße Haus gedemütigt und zutiefst unpopulär verlassen.
Doch in den Jahrzehnten danach gelang ihm – mit der für ihn typischen Beharrlichkeit – ein bemerkenswertes Comeback. Er wurde ein international geschätzter Vermittler, war in Nordkorea, im Nahen Osten, auf Kuba und in Afrika aktiv. Das von ihm 1982 gegründete Carter Center in Atlanta fördert Menschenrechtler weltweit. 2002 erhielt er für seine vielfältigen humanitären Aktivitäten den Friedensnobelpreis. Die britische Zeitung Independent schrieb einmal über ihn: „Carter gilt weithin als ein besserer Mensch, als er Präsident war.“ Tatsächlich dürfte er an seinem 100. Geburtstag als Ex-Präsident und als moralische Instanz unter seinen Landsleuten weitaus beliebter geworden sein, als er es als Präsident je war.