Fußball und kollektive Rituale: Emotionen im Stadion – Wissen | ABC-Z

Der Einpeitscher vor der Fankurve gab ein Kommando, und die Zuschauer im Stadion verwandelten sich in ein singuläres Wesen, dessen Gefühle sich synchron schalteten. Die Ansage lautete, den Schlüsselbund aus der Hosentasche zu nehmen und auf ein Signal hin damit zu klappern. Ein paar Zehntausend Menschen rappelten, klapperten und klingelten mit ihren Schlüsseln. Eine kleine, banale Sache mit der Wirkung eines mächtigen Rituals: Die Zuschauer wurden eins an diesem Nachmittag im Bundesliga-Fußballstadion, unvergessen, wenn man dabei war. Bis heute, viele Jahre später.
Der Schlüsselbund-Moment erzählt, wie beim Fußball (und anderen Sportarten) Menschen in kollektiver Emotion zu einer Einheit verschmelzen können – und dass dies nicht zwingend mit den Ereignissen auf dem Spielfeld zu tun haben muss. Diese These vertreten auch Wissenschaftler um den Anthropologen, Ritualforscher und glühenden Fußballfan Dimitris Xygalatas von der University of Connecticut: Das „kollektive Aufschäumen“ der Zuschauer, wie die Forscher das nennen, entzünde sich vor allem an den Ritualen der Fans, argumentieren sie in einer Studie im Fachjournal PNAS, und etwas weniger am Spielverlauf oder dem Ergebnis.
EKG-Sensoren maßen die gemeinsame Aufregung
„Rituale zählen zu jenen Dingen, die auf den ersten Blick überhaupt keinen Sinn ergeben, wenn man das reine Verhalten betrachtet“, schreibt Xygalatas, „die aber eine tiefe Bedeutung für die Menschen haben.“ Für ihre Studie betrachteten die Forscher Fan-Rituale rund um ein Fußballspiel in Brasilien, wo dieser Sport eine schier religiös anmutende Bedeutung für die Menschen trage. Dazu verkabelten sie Fans mit EKG-Sensoren, die diese für mehrere Stunden trugen. Anhand der Daten des Elektrokardiogramms ließen sich Rückschlüsse ziehen, wie erregt die Zuschauer waren; vor allem zeigten sie, wann die Fans diese emotionalen Zustände miteinander teilten, sie also zu einer Art Einheit wurden.
Am stärksten synchronisierten die brasilianischen Fußballfans ihre Emotionen vor dem Spiel, und zwar während eines Rituals namens „Rua de Fogo“, was sich vielleicht als „Straße aus Feuer“ übersetzen lässt. Dabei empfangen die Fans ihre Mannschaft, die mit dem Bus anreist, und bilden nahe dem Stadion eine Gasse, durch die das Fahrzeug mit den Spielern langsam rollt. Die Fans zünden Feuerwerkskörper, bengalische Feuer und Rauchbomben, schwenken Fahnen, skandieren Sprüche und schmettern Fangesänge. Sie verhalten sich also so, wie sie es auch in vielen Stadien während eines Spiels tun – und doch waren dies die Momente, während derer die EKG-Geräte die heftigsten kollektiven Ausschläge registrierten.
Es war dieses Ritual vor dem Anpfiff, das die Fans am stärksten zu einem gemeinschaftlichen Organismus zusammenschweißte. Während des Spiels hielten da nur noch die kurzen Momente nach einem Treffer der eigenen Mannschaft mit. Die immense Bedeutung des Sports in vielen Gesellschaften, so die Forscher um Xygalatas, beruhe vor allem auf den damit verknüpften kollektiven Ritualen. Diese stifteten Zugehörigkeit und Identität, stillten also menschliche Grundbedürfnisse. Also, die Gemeinde möge sich erheben – und raus mit den Schlüsseln!