Kultur

Warten: Gegen das Wartensterben | DIE ZEIT | ABC-Z

In der Reihe “Die Pflichtverteidigung” ergreifen wir das Wort für Personen, Tiere, Dinge oder Gewohnheiten, die mehrheitlich kritisiert und abgelehnt werden.Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 47/2025.

Verzeihen Sie bitte, aufgrund eines technischen Defekts verspätet sich die Pointe dieses Textes leider um einige Absätze. Außerdem fährt sie auf einer anderen Metaebene ein und mit umgekehrter Buchstabenreihung. Für entstandene Paradoxien, Aporien oder kafkaeske Verzögerungen bitten wir Sie natürlich innigst um Entschuldigung.

Aber andererseits: Sehen Sie es mal positiv! Sie und ich haben soeben x Absätze gewonnen, mit denen wir machen können, was wir wollen. Was passt plötzlich nicht alles in diese Zeilen: ein Rilkezitat etwa, der Sommer war sehr groß und so, oder die Bundesliga-Ergebnisse, wo sicher wieder irgendwer gegen irgendwen 2:0 gewonnen hat. Eine Spielwiese liegt vor uns! Terra incognita! All das wird möglich, wenn man sich hier und da etwas geduldet, einfach mal wartet.

Populär ist diese Meinung freilich nicht: Warten will heute niemand mehr. Dieser Tage wünscht man sich Same-Day-Delivery, Video-on-Demand, Instant Gratification – so ungeduldig waren wir bei der Einführung dieser Konzepte, dass wir uns nicht mal einen Moment genommen haben, sie ins Deutsche zu übersetzen. Damit leben wir in einem Zeitalter permanenter Vorfreudeentwertung. Alles ist sofort da, stets auf Abruf, als wäre die Welt ein gigantischer Universalautomat, der nur darauf wartet, dass wir den richtigen Knopf drücken. Und wehe, der Schokoriegel steckt im Schacht fest! Dann rütteln wir an der Maschine wie an einem müden Orakel.

Ein Ministerium für unnötige Verzögerungen muss her

Am härtesten entlädt sich die Ablehnung gegen das Warten natürlich in Richtung der Deutschen Bahn, dem schändlichen Makel auf der weißen Weste deutschen Effizienzdenkens. An verwaisten Gleisen stehen wir uns deutschlandweit die Beine in den Bauch, oder schlimmer: warten darauf, dass es überhaupt verwaiste Gleise gibt, um derart rumzulungern, wie im Fall von Stuttgart 21, dessen Eröffnung gerade ein weiteres Mal verschoben wurde.

Dabei ist unerwartete Wartezeit die letzte weiße Leinwand, die uns noch bleibt, ein unbebautes Grundstück im Terminkalender, free real estate. Muss man warten, ist man fast definitionsgemäß entmündigt: Was auch immer es ist, auf das man wartet (Zug, Antwort, Zahnersatz), man wird in eine Empfängerrolle gezwungen und kann sich darin ausleben. Das Universum schrumpft auf zwei Referenzgrößen zusammen: uns und die Zeit – und wir können tagträumen, Löcher in die Luft starren oder Steine die Straße runtertreten. Wartezeiten entziehen sich der allgegenwärtigen Verwertungslogik und bieten uns kurz Zuflucht vor ihr.

Statt Wartezeiten zu schmähen, sollten wir sie in Wahrheit fördern. Ein Ministerium für unnötige Verzögerungen, das regelmäßig unsinnige Pausen verordnet; angemessen gelöhnte Wartestatisten, die beim Bürgeramt die Schlangen lang halten, indem sie alle 20 Minuten fünfzehn Nummern ziehen und dem erschöpften Bürger so den verdienten Kurzurlaub gönnen; und die Deutsche Bahn, nun, die Deutsche Bahn tut längst das Ihre.

Und wenn man am Ende all dessen erfährt, dass die Pointe wegen einer Stellwerkstörung zwischen Drucksatz und Kiosk heute leider doch entfällt, dann ist man letztlich vielleicht sogar froh drum.

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