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Neues Album von Chris Imler: Internet essen Menschheit auf | ABC-Z

Wie kam man eigentlich ins Internet, bevor es Computer gab? Diese Frage, so berichtete es ein Bekannter, trieb unlängst seine Tochter im Grundschulalter um. Ältere Menschen, die eine prädigitale Vergangenheit noch gut erinnern, würden die Frage wohl genau umgekehrt formulieren: Wie zum Teufel kriegt man den Geist wieder zurück in die Flasche? Antwort: Vermutlich gar nicht.

Während die Welt, wie wir sie kennen, von diesem Internet (beziehungsweise den Tech-Konzernen, die damit sehr viel Geld verdienen) gerade systematisch zerlegt wird, ringen all jene, die lang schon ahnten, dass Skepsis angebracht ist, darum, die durchaus angebrachte Panik irgendwie in den Griff zu bekommen. Schließlich ist mittlerweile alles so vernetzt wie das Netz selbst.

Die damit einhergehenden Geschäftsmodelle lassen sich kaum von unserem Alltag trennen. Daten werden abgeschöpft, wo es nur geht, Gefühle erfolgreich manipuliert. Und trotzdem tun sich die meisten Menschen schwer damit, die Geräte, die uns das alles einbrocken, für ein paar Stunden beiseitezulegen.

Schön, dass mit Chris Imler – Berliner Schlagzeuger, Songschreiber, stilsicherer Grandseigneur des Undergroundpop – jemand auf diese Gemengelage blickt, der sie aufs Schonungslose versteht: „Ich umarme fremde Leute / Ich verliere meine Freunde / Ich erkenne sie nicht mehr wieder / Ich höre 100.000 Lieder“, sprechsingt er über die hohl tönenden stakkatoartigen Beats der ersten Takte seines titelgebenden Songs „The Internet Will Break My Heart.“

Nur 30 Minuten

Gleich mehrere Songs dieses mit gut 30 Minuten kurzen, schnurzen und dabei eindringlichen neuen Albums, handeln von den Deformationen, die unser digitaler Alltag produziert. In den 1980er Jahren von Augsburg nach Westberlin gekommen, spielte Imler in den Neunzigern Schlagzeug bei der krawalligen Garagen-Punkcombo Golden ­Showers – und bald dann auch mit allerhand tollen Acts, von Jens Friebe über Masha Qrella bis Oum Shatt. Es sollte dauern, bis 2014 mit „Nervös“ sein Solodebüt erschien.

Seither veröffentlichte Imler drei weitere Alben; auf dem aktuellen klingt der hibbelige Künstler noch nervöser als bisher. „Man muss den Körper an der kurzen Leine halten. Zu viele Pausen verwirren den. Nicht dass der noch denkt, das wäre hier Schleswig-Holstein“, erklärte er der taz 2020. Da hatte Imler, der über sein Alter elegant schweigt, seinen 60. Geburtstag vermutlich bereits hinter sich.

Das Album

Chris Imler: „The Internet Will Break My Heart“ (Fun in the Church/Bertus/Zebralution)

Live: 11. 4., Köln, Gebäude9, 24. 4., Ulm, Gold, 10. 5., ­Berlin, Säälchen

Doch das Digitale hat unseren Alltag eben so weitreichend penetriert, dass selbst die lässigsten Posen nur bedingt weiterhelfen. Auch subkulturelle Nischen bieten kaum mehr Schutz. Es geht ans Eingemachte, unser aller Seelenwohl steht auf dem Spiel. Dementsprechend angefasst klingt Imler auf „The Internet Will Break My Heart“.

Düsteres und Abgründiges

Auch auf klanglicher Ebene: Das Duracell-Hasenhafte, das bei dem minimalistischen Drummer stets mitläuft, wirkt etwas ausgebremst. Die schleppenden Beats über dem technoiden Industrial-Ambient im Song „You Porn Me, Porn“ klingen vor allem eins: abgründig.

So wie auch der Track „Agoraphobie“ – damit wirft Imler einen düster wabernden Blick auf eine Angststörung, die vor allem auf offenen Plätzen zutage tritt, weit weg von den digitalen rabbit holes. Der Track entstand mit der Brüsseler Elektronik-Produzentin Naomie Klaus.

In „Let’s Not Talk About the War“ lässt Imler widersprüchliche Aussagen aufeinanderprallen. Trotz scharfer Kanten sorgt die ambivalent verhandelte Sehnsucht nach Eskapismus für einen vergleichsweise geschmeidigen Groove: „Let us talk about the time /
Before the internet was born. […] Let us tell some jokes
/ That we’ve told 20,000 times before / About our souls that we’ve sold.“ Vielleicht finden wir das Witzeln über unsere verkauften Seelen bald selbst nicht mehr lustig. Bis dahin grüßt Imler mit eindrücklichen Depeschen aus dem Kaninchenbau.

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