Urteile in Russland: Anwälte von Nawalny zu Lagerhaft verurteilt | ABC-Z
Gerade hat die Richterin wie eine Maschine die Urteile vorgelesen. Urteile gegen Lipzer und seine Anwaltskollegen Wadim Kobsew und Igor Sergunin. Sie hat kein einziges Mal aufgeblickt. Fünf Jahre Freiheitsentzug für Lipzer, fünfeinhalb für Kobsew, dreieinhalb für Sergunin. Zudem bekommen alle drei ein dreijähriges Arbeitsverbot.
Die Anwälte, die bis zu ihrer Festnahme im Oktober 2023 Russlands bekanntesten Regimekritiker, den Oppositionspolitiker Alexei Nawalny, verteidigt hatten, sollen – so der Richterspruch – „Teilnehmer an einer extremistischen Vereinigung“ gewesen sein. Ihnen wird vorgeworfen, „unter Ausnutzung ihres Status als Rechtsbeistand“ Briefe von Nawalny an seine Mitstreiter*innen weitergegeben zu haben.
Der Richterspruch fällt ausgerechnet am 17. Januar – der Tag, an dem Nawalny vor vier Jahren nach seiner Behandlung in Deutschland nach Russland zurückgekehrt und sofort in Unfreiheit verschwunden war, bis er schließlich in einer Strafkolonie hinter dem Polarkreis starb. Bald ein Jahr ist das her.
Anwälte als Mittäter
Das Urteil gegen seine ehemaligen Verteidiger zeigt, dass das russische Regime Anwälte mittlerweile zu Mittätern bei einem Vergehen macht, nur weil sie verteidigen, weil sie letztlich ihren Job machen. Zumal bei politisch Verfolgten. Es öffnet Folter und Fälschungen von Beweisen Tor und Tür.
Denn es sind die Anwälte, die eine Art Draht zur Außenwelt für die Angeklagten sind. Sie können zwar selten etwas am Strafmaß ändern, doch sie sorgen dafür, dass die Verurteilten die Zeit in Haft besser überstehen. Die Anwälte sind es, die die Häftlinge regelmäßig besuchen, die auf die Haftumstände verweisen können, die gegen mögliche Missstände in den Strafkolonien und für die Gesundheit der Häftlinge auch mittels Öffentlichkeit kämpfen. Wenn sie keine Besuche machen, kann ein Häftling schneller zum Opfer von Behördenwillkür werden.
Der Richterspruch für Lipzer, Kobsew und Sergunin ist ein Signal an die Jurist*innen, die Finger von politischen Fällen zu lassen, und eine weitere Einschüchterungsmaßnahme in einem Staat, der durch zunehmende Repressionen Politik macht. Viele Anwälte haben Russland bereits verlassen.
Einige – auch prominente – waren zur Urteilsverkündung nach Petuschki gekommen. Nur diese ist öffentlich bei einem Prozess, den der Staat zu einem geschlossenen erklärt hatte. Sie wollen sich nicht einschüchtern lassen und wissen doch, dass letztlich jede Art von Kritik, auch die Verteidigung von Regimekritiker*innen, für die russische Staatsmacht ein Verbrechen darstellt. Ohnehin endet kaum eine Anklage mit einem „freigesprochen“.
Walze der Zerstörung
„Was soll ich sagen? Es ist alles betrüblich, traurig. Aber ja, jeder hat ein Recht auf Verteidigung, auch Oppositionelle. Wir werden unsere Arbeit fortsetzen“, sagt Lipzers Anwalt Andrei Orlow nach dem Urteilsspruch, wissend, dass die alles zerstörende Walze des Staates jeden treffen könnte – auch ihn, der nun in Berufung geht. Angst und Anwalt passten nicht zusammen, meint er. Das hatte auch sein Klient Lipzer stets gesagt.
Bereits im Juni 2021 hatten Russlands Behörden Nawalnys Antikorruptionsstiftung zu einer „extremistischen Vereinigung“ erklärt. Mittlerweile ist sie als „extremistische Organisation“ im Land verboten. Jeder, der mit ihr zu tun hatte, auch in der Vergangenheit, macht sich als „Extremist“ verdächtig.
„Wir stehen wegen der Übermittlung von Gedanken vor Gericht“, hatte Wadim Kobsew in seinem letzten Wort vor einer Woche gesagt. Der Staat schaue in die Vergangenheit, „durch neue Linsen“. „In den 1930er, 1940er, 1950er Jahren schickten Menschen mit ebensolchen ernsten Gesichtern wie jetzt andere Menschen für ihre skeptischen Gedanken über die Staatsorgane ins Lager.“
Der 41-Jährige sieht sein Land immer und immer wieder „auf der Stelle treten“. „Es ist, als säßen wir beim Optiker fest und probierten wahllos alle Brillen nacheinander an, ohne uns auch nur die Mühe zu machen, aufs Rezept in unserer Tasche zu schauen“.